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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783963113819
Sprache: Deutsch
Umfang: 304 S.
Format (T/L/B): 2.3 x 21.5 x 14.2 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Leben und Sterben in Stalins Lagern - Erzählungen aus der Hölle des Gulag Sergej Maximows Erzählband 'Taiga' versammelt 23 Erzählungen über das Leben im Gulag unter Stalin. Sie berichten von der tragischen Verhaftung, den Verhören in der Lubjanka, dem erzwungenen Verrat durch Freunde, den Schrecken des Transports in die Lager, von den mörderischen Bedingungen und der Schwere der Arbeit dort. Immer wieder zeigt Maximow, wie Menschen unter den Extremen des Gulags zu Tieren werden - Häftlinge, Aufseher, aber auch sogenannte 'Intellektuelle': Untersuchungsrichter, Lagerleiter Doch lässt der Autor auch die Menschlichkeit durchblicken, die gerade unter den politischen Häftlingen herrscht, und zeigt, wie sie ihre Angst überwinden, sich nicht aufgeben und versuchen ihre Würde zu bewahren. Zwangsarbeit, Hunger, Kälte, Krankheit, Gewalt und Willkür - all das hat Maximow selbst erlebt und beschreibt es in seinen Erzählungen nüchtern, fast beiläufig, was den Schrecken und das Entsetzen beim Lesen umso größer werden lässt.

Autorenportrait

Sergej Sergejewitsch Maximow (1916-1967) wurde an der Wolga geboren, verbrachte seine Jugend in Moskau und in stalinschen Straflagern. Im Krieg verschlug es ihn nach Deutschland, später emigrierte er in die USA. Maximow veröffentlichte Erzählungen, Romane, Essays und Theaterstücke. Aufgrund seiner Biografie wurde er in der Sowjetunion nicht publiziert und geriet in Vergessenheit. Anlässlich seines 100. Geburtstages erschienen sein Roman »Denis Buschujew« und der Erzählband »Taiga« erstmals in Russland.

Leseprobe

Die Flucht [] Den ganzen Tag, bis zum späten Abend, marschierten wir nach Norden. Zweimal stiegen wir in einen Bach hinab und wateten bis zu den Knöcheln im Wasser, um unsere Spuren zu verwischen. Wir bahnten uns unseren Weg durchs Unterholz, durch Gebüsche und Sümpfe, gingen aus letzter Kraft immer weiter, mit blutigen Füßen in den schlecht sitzenden Schuhen. Ein solch langer Marsch fiel uns, die wir körperlich ausgezehrt waren, unerträglich schwer. Ich kann nicht mehr, Jungs, ich kann nicht machen wir eine Pause, jammerte der entkräftete Tschub. Schweig!, befahl Zigeuner. Wie lange musst du sitzen? Zehn Jahre und? Die Rechnung ist einfach, erklärte Zigeuner: Fünf Werst, die du schaffst, entsprechen einem Jahr Knast. Halt noch durch Er kann nicht mehr! Und das von einem Gauner! Sieh dir doch den Genossen Fomin an. Der schleppt sich weiter. Und dabei hat er wegen Politik gesessen Gesessen, wiederholte ich in Gedanken. In der Vergangenheit hatte er es gesagt! Wieder überkam mich das Gefühl unendlicher Freude. Schließlich waren unsere Kräfte doch erschöpft. Wir konnten nicht mehr. Am schlechtesten ging es Tschub und mir. Der runde volle Mond ging auf und übergoss die Taiga mit gespenstischem, silbrigem Glanz; vor die Kiefernstämme legten sich weiche grüne Schatten, der Himmel bedeckte sich mit Sternen. Aus dem Unterholz einer Fichtenschonung flog geräuschvoll ein Auerhahn auf. Wir durchquerten eine winzige Schlucht, kamen auf eine kleine Lichtung und erstarrten vor Verblüffung: Auf der Lichtung stand ein großer Heuschober. Zigeuner ging vorsichtig um ihn herum; unter seinen Füßen raschelten die Büschel des gemähten Grases. Fomin holte Karte und Kompass heraus, verglich den Stand der Sterne mit der Karte. Angespannt standen wir da. Und?, fragte Zigeuner ungeduldig. Folgendes, meinte Fomin mit gerunzelter Stirn. Etwa drei Kilometer von hier ist ein syrjänisches Dorf, Gai-Ju heißt es. Es ist weit und breit das letzte, das nächste kommt erst nach siebzig Kilometern. Wisst ihr, wie viel wir heute geschafft haben? Vierzig Kilometer! Wir beschlossen, im Heu zu übernachten. Tschub stieg in die Schlucht, holte mit unserem Feldgeschirr kaltes Wasser und wollte schon ein Feuerchen machen, doch fuhr Zigeuner ihn derart an, dass Tschub vor Schreck fast das Feldgeschirr fallen ließ. Wir aßen alles kalt und tranken Wasser dazu. Dann rauchten wir, und die Stimmung hob sich. Wenn wir uns in der Taiga richtig verirren und nichts mehr zu fressen haben, wird einer von uns geschlachtet, versprach Zigeuner. Du, Tschub, als Erster, obwohl du ganz schön mager bist, nur Haut und Knochen Und, Zigeuner, was machst du, falls die Flucht gelingt?, fragte Fomin. Ich geh wieder auf Raubzug, sagte der kurz und streckte sich genüsslich im Heu aus. Und ihr Politikerspinner, du und der Student, was macht ihr? Weiß nicht, erwiderte ich unentschlossen. Nach Hause kann ich nicht, dann kriegen sie die Familie ran. Ich weiß es nicht, hab auch keine Ahnung, ob wir irgendwie Papiere kriegen können. Die besorg ich euch, ihr Politikerspinner, versprach Zigeuner. Wir müssen zusehen, dass wir nach Kasan kommen, da hab ich alte Freunde, die besorgen welche. Ich gehe ins Ausland, teilte Fomin mit. Die Polen liefern dich aus. Dann eben ins Baltikum Die auch. Finnland soll neuerdings auch ausliefern, meinte Zigeuner bedeutungsvoll und fing an zu lachen. Alle Achtung, euer Genosse Stalin hat für ne gründliche Beschattung gesorgt! Wer abhauen will, weiß nicht mal wohin. Ich sag euch eins, Politikerspinner, versteckt euch mit euren falschen Papieren irgendwo in Mittelasien und sitzt da still, wartet auf den Krieg. Es soll bald Krieg mit Deutschland geben. Dann kriegt Genosse Stalin eins übergebraten, und die Häftlinge werden alle befreit. Ach, Zigeuner, seufzte Fomin. Auf den Krieg hoffen nicht nur die Häftlinge, ganz Russland hofft darauf. Übrigens hege ich gegen den Genossen Stalin überhaupt keinen Groll, meinte Zigeuner fröhlich. Wir Gauner sind in den Strafanstalten die Nummer eins, uns erweist man Vertrauen, und ihr seid zwar gebildet, aber trotzdem die Letzten. Euch Politischen geben sie auch längere Strafen als uns, und strengere. Tja, ihr seid ja auch das sozial nahestehende Element, bemerkte Fomin scherzhaft. Genau!, bestätigte Zigeuner, ohne die Ironie zu verstehen. Dostojewski hat schon vor fünfundsiebzig Jahren auf den Zusammenhang zwischen der internationalen Revolution und der Welt der Kriminellen hingewiesen, ergänzte ich an Fomin gewandt. Siehst du!, rief Zigeuner begeistert und klatschte sogar leicht in die Hände. Plötzlich meldete sich Tschub, der inzwischen wieder zu Atem gekommen war: Aber wisst ihr, Jungs, mir tut Krutikow leid. Ein älterer Mensch schließlich, wollte unbedingt zu seiner Familie, und jetzt - neun Gramm! Vielleicht ergehts ja dem einen oder anderen von uns auch noch so, oder? Schweigen trat ein. Mit einem Mal sank die Stimmung wieder auf einen Tiefpunkt. Tatsächlich, unser trauriges Schicksal hatte ja erst begonnen - als von Jägern mit fünfzackigen Sternen auf den Mützen verfolgte Fluchttiere! Schweigend legten wir uns schlafen. Der Aluminiummond hing direkt über uns, an den spitzen Wipfeln der Fichten steckten, wie an Weihnachtsbäumen, große blaue Sterne. Ganz in der Nähe erklang der unheimliche, dumpfe Ruf eines Uhus, und als Echo begann in der Schlucht ein Polarfuchs zu heulen. Zigeuner seufzte: Nicht gut Was ist nicht gut? Ich verstand nicht. Nicht gut ist, dass wir so nahe an diesem syrjänischen Dorf sind, erklärte er. Die haben in jedem Dorf Sicherheitsposten, die sind alle schon per Telefon über die Flucht informiert worden. Nicht, dass sie rund um die Dörfer anfangen zu stöbern, vielleicht sogar die Hunde loslassen. Die kommen gar nicht auf die Idee, dass wir nach Norden gegangen sind, murmelte Fomin verschlafen. Schlaf, Zigeuner. Vor Sonnenaufgang weckte mich ein eigenartiges Gefühl, an das ich mich später oft erinnern würde, ohne je zu begreifen, wie genau sich dieses ungewöhnliche Gefühl geäußert hatte. Ich hatte geträumt, von Moskau, glaube ich, von der Kriwoarbatski-Gasse und davon, wie ich als Schüler mit einem Ranzen auf dem Rücken um eine Hausecke biege und auf das Schultor zugehe. Aber, wie seltsam, unter meinen Füßen ist kein Bürgersteig, sondern altes, fauliges Laub und rauchgraues Moos. Ich weiß, dass es ein Traum ist, ich weiß es sehr gut, und ich begreife, dass ich diesen Traum sofort, unverzüglich abschütteln muss, weil sonst etwas Schreckliches, nicht Wiedergutzumachendes passiert. Mit einer enormen Anstrengung meines Bewusstseins vertreibe ich den Traum und öffne mühsam die verklebten, bleischweren Lider. Der Mond ist weg. Eisige Kälte. Aus der Schlucht kommt wie Gallert frühmorgendlicher Nebel auf unsere Anhöhe gekrochen. Er umwickelt die Kiefern, drückt sich an die Erde. Es dämmert noch, und es ist außergewöhnlich still. Ich schaue mich um und sehe, dass Zigeuner ebenfalls wach ist, dasitzt, auf die Hände gestützt, und angespannt lauscht. Sein Mund ist halb geöffnet, die schönen Augen leicht zugekniffen. Er bemerkt mich, legt die Finger an die Lippen - pst! Links und rechts von mir schlafen Fomin und Tschub den Schlaf der Gerechten. Auf einmal nehme ich deutlich, ganz klar das Knacken von Zweigen unter Stiefeln wahr, spüre, wie mein Herz kalt wird, erstarrt. Ich sehe, wie das Blut mit einem Mal aus Zigeuners Gesicht weicht, er ist kreidebleich. Je länger ich dem Knacken der Zweige nachspüre, desto unklarer wird, aus welcher Richtung es kommt; es scheint überall zu sein: vor uns, hinter uns, links, rechts Sie umzingeln uns, flüstert Zigeuner kaum hörbar, ohne sich zu rühren.

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