Beschreibung
Mit Roland Barthes im Sinn hinterfragt Jochen Schimmang Phänomene und Diskurse der letzten Jahre und lässt aus sehr disparaten Mosaiksteinchen - beginnend mit einem Anfangsfinder - ein autobiografisches Wimmelbild entstehen. Darin finden Kleidungsstucke als Fetisch und ein Plädoyer fur einen zivilisierten Verkehr unter Hochstaplern ebenso Platz wie Phantasien, die ChatGPT uber den Autor entwickelt hat. Auch die Buzzwords der Tagespolitik - sei es die Zeitenwende oder die Spaltung der Gesellschaft - sind vor seinem Zugriff nicht sicher. Schimmang sinniert uber Ähnlichkeiten und Unterschiede, etwa zwischen Barthes und Foucault oder zwischen Menschen und Schildkröten; er denkt nach uber Giacomettis Sterben und das Rätsel Vermeer, sammelt Träume, Verleser und Verhörer, schreibt alternative Kurznovellen zu seinen eigenen Romanen und findet erste Sätze stark uberschätzt. Auf literarischen Geländegängen gelangt er an schon einmal besuchte und an imaginierte Orte. Konsequenterweise fuhrt der Text am Ende nicht ans Ziel, sondern ins Offene: ins Terrain vague.
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Autorenportrait
Jochen Schimmang, geboren 1948, studierte Politische Wissenschaften und Philosophie an der FU Berlin und lehrte an Universitäten und in der Erwachsenenbildung. Er lebt als freier Schriftsteller und Übersetzer in Oldenburg. 2010 erhielt er für seinen Roman 'Das Beste, was wir hatten' den Rheingau Literatur Preis und 2012 den Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar für 'Neue Mitte'. 2017 erschien sein Roman 'Altes Zollhaus, Staatsgrenze West', 2019 die Erzählungen 'Adorno wohnt hier nicht mehr'. 2019 wurde Jochen Schimmang mit dem erstmals verliehenen Walter Kempowski Preis für biografische Literatur des Landes Niedersachsen ausgezeichnet, 2021 erhielt er den Italo-Svevo-Preis für sein Lebenswerk. Zuletzt erschien 2022 sein Roman 'Laborschläfer'.
Leseprobe
Anfangsfinder. Wäre er ein Ding, wäre er vielleicht der Anfangsfinder einer Cellophanverpackung, oder der Stopper für eine Vorhangschiene. Eventuell auch ein Türschlossenteiser oder ein Lesezeichen. Etwas in bescheidenem Rahmen Nützliches jedenfalls. In gewisser Weise unverzichtbar, solange unsere Gattung existiert. Der Rest der Welt, der unsere Gattung überleben wird, braucht weder Anfangsfinder noch Stopper, weder Türschlossenteiser noch Lesezeichen. Wäre er ein Tier, gehörte er einer Gattung an, die einen langen Winterschlaf hält. Aktive Alte. Er kann seine Abneigungen (akzeptabler klänge: Idiosynkrasien) nicht begründen. Eine davon gilt den aktiven Alten, die allen möglichen Vereinen und Gesellschaften angehören, dreimal im Jahr an einer geführten Bildungsreise teilnehmen, regelmäßig Soireen oder Matineen geben oder jedes Jahr im Sommer eine Fahrradtour von insgesamt mindestens 1000 Kilometern machen. Die noch voll und ganz 'aktiv am Leben teilhaben'. An welchem? Die jungen, schlecht bezahlten Führer jener Studienreisen fürchten dabei niemanden so sehr wie die pensionierten Oberstudienräte, die es - tatsächlich! - besser wissen. Alte sind Besserwisser und sollten sich zurückhalten. Das gilt auch für ihn selbst. () Ein Gespräch über Bäume. Wochenmarkt, zwei Minuten Fußweg von seiner Wohnung, dienstags donnerstags samstags. Der Obstbauer aus dem Alten Land, der dort seinen Stand hat, sagt auf seine Nachfrage, er werde über Weihnachten und Neujahr zweitausend neue Bäume pflanzen - 'wenn der Boden es zulässt.' Als er im Januar wieder da ist, berichtet er: 'Habe nur tausend geschafft. Die Erde war oft zu hart. Aber der Rest kommt noch.' Stillschweigende Hochachtung.