Beschreibung
'Gegen das Verdrängen von Tod und Sterben' Drei Tage lang hielt Maren Wurster für ihren Vater Totenwache. Sein Körper lag aufgebahrt in einem Raum, für sie stand ein Bett darin. Ihr 5-jähriger Sohn war über lange Strecken da, auch ihre demenzkranke Mutter nahm Abschied von ihrem Mann. Die Autorin blieb sogar über Nacht - und schlief tief und fest. Aufbauend auf dieser persönlichen Erfahrung erkundet Maren Wurster die Totenwache aus philosophischer, historischer und gesellschaftskritischer Perspektive. Sie betrachtet verschiedene kulturelle Umgangsweisen mit dem Tod ebenso wie aktuelle Themen, etwa die Unmöglichkeit, in Corona-Zeiten Sterbende würdevoll zu begleiten. Es ist ein Plädoyer für Akzeptanz, für das Aushalten, für das Zumuten, für das Fühlen, das nur möglich ist in einer Gesellschaft, in der die Toten einen Platz haben, die Raum lässt für Nichtfunktionieren und Schmerz. Eine Gesellschaft, in der das Sterben nicht verdrängt wird, sondern das sein darf, was es ist: Teil des Lebens.
Autorenportrait
Maren Wurster, geboren 1976, studierte Filmwissenschaft und Philosophie in Köln und Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2017 erschien ihr Debütroman »Das Fell«, 2021 das Memoir »Papa stirbt, Mama auch«, 2022 folgt der Roman, »Eine beiläufige Entscheidung«. Sie lebt mit ihrem Sohn in Berlin und im Wendland.
Leseprobe
Der Wecker piept, ich wache auf. Ich liege auf dem schmalen, aufgeklappten Reisebett. Mein Blick geht zu meinem Vater, an dessen Bettende ich geschlafen habe. Papa. Mein Papa. Geliebter Papa. Ich schlage die Decke zur Seite, setze mich auf und betrachte ihn. Die Kristalllampen beleuchten sein Gesicht, ein warmes Licht auf seiner weißen Haut, die wie Porzellan wirkt. Markant ist sein Gesicht, so wie es sein ganzes Leben war, nur in den letzten Monaten seines Sterbens ist es weich und feminin geworden. Jetzt zeigen sich seine klaren Konturen wieder, jetzt, da mein Vater tot ist. Die Jochbeine sind deutlich zu sehen, die Augen geschlossen in den Höhlen, seine große Nase, der geöffnete Mund. Die Dreiecksform seines Gesichts, Yvonne hat mich am letzten Tag vor seinem Tod darauf hingewiesen, wie von der Stirn zum Kinn sich der Schädel zeigt, weil die Gesichtsmuskeln erschlaffen. Er wird gehen, hat sie gesagt, nun erkenne ich, was sie meinte. Mein Vater ist in ein Leinentuch gehüllt. Um seinen Kopf herum haben Angela, die Bestatterin meines Vaters, und ich es aufgebauscht. Geborgen ruht sein Kopf darin. Blumen liegen auf seinem Bett, Rosen, Nelken, Gänseblümchen, auch auf dem Tuch, darunter zeichnet sich sein großer, ausgemergelter Körper ab. Zu seinen Füßen der gewebte Teppich meines Sohns, türkisfarbene Wolle, bunte und dann rosafarbene, die Enden verknotet und ein wenig zottelig. Wir haben lange daran gewoben und wollten ihn Opa eigentlich zu Weihnachten schenken, jetzt ist er der ein fliegender Teppich für seine Himmelsreise geworden.