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Fußabdrücke eines Fliegenden

Erschienen am 10.02.2012
Auch erhältlich als:
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783608939644
Sprache: Deutsch
Umfang: 224 S.
Format (T/L/B): 2.5 x 21 x 13.4 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Nach dem preisgekrönten 'Das Ende der Liebe' legt Sven Hillenkamp erneut ein Buch vor, das sich allen Genres entzieht. 'Fußabdrücke eines Fliegenden' vereint Erzählungen und Gedichte, Szenen und Bilder - oft nur von der Länge eines Witzes - zu einem poetischen Geflecht. Tiefgründiges Nachdenken über unsere Zeit in Kombination mit einem starken Sinn für die Möglichkeiten der Literatur - das zeichnet dieses Buch aus. Ein Fünfundzwanzigjähriger wird ins Altenheim eingewiesen. Der Pilot eines Flugzeugs stellt während des Landeanflugs fest, dass die Erde verschwunden ist. Auschwitz wird wiedereröffnet, weil alle Kunst über Auschwitz verharmlosend ist.   Hillenkamps literarisches Debüt Fußabdrücke eines Fliegenden ist ein Geflecht aus Geschichten, Lauf- und Standbildern. Komisch, düster, grotesk. Dem Schweren begegnet es mit Leichtigkeit, das Monolithische sprengt es in Stücke. 'Gerade wenn das Schlimme überdeutlich verhandelt und in inneren Bildern nachvollzogen wird, ergibt sich eine temporäre Selbstheilung durch die tief inhalierte Sprache, durch den erlittenen und genossenen Stil, durch die rätselhaft schöne Wirkkraft gelingender Literatur.' Georg Klein, Laudatio auf Sven Hillenkamp zum Clemens-Brentano-Preis

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Autorenportrait

Sven Hillenkamp ist ein deutscher Philosoph und Schriftsteller. Er lebt in Stockholm. Wichtige Kategorien sind strukturelle Freiheit, das Menschliche und das Unmenschliche, Möglichkeit und Unendlichkeit, sozialer Wert, Zeit(ent)strukturierung, Andersheit und Negativität. Diese Kategorien werden in Abgrenzung von gängigen Sozialtheorien entwickelt. Methode ist eine Verbindung von Erfahrungs- und Strukturanalyse. Sven Hillenkamp wurde am 7. März 1971 in Bonn geboren. Er wuchs in Bonn, Paris und Genf auf. Studium der Islamwissenschaften (Arabisch), der Wirtschafts- und Sozialgeschichte und der Politikwissenschaft. Redakteur der Zeitschrift Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen. 1998 Abbruch des Studiums, Arbeit für verschiedene Zeitungen. 2001-2004 Redakteur bei der Wochenzeitung Die Zeit (Berliner Büro). 2007 Umzug nach Stockholm und Beginn einer auf vier Bände angelegten soziologisch-philosophischen Untersuchung unter dem Titel 'Zwänge der Freiheit. Die neuen Formen der Faktizität'. 2009 Veröffentlichung des ersten Bandes 'Das Ende der Liebe', der sich mit der Kategorie des Möglichen befasst. 2010 Auszeichnung mit dem Brentano-Preis. 2012 literarisches Debüt mit 'Fußabdrücke eines Fliegenden". 2015 nahm Hillenkamp einen Lehrauftrag an der Universität der Künste Berlin an. Er gibt auch Seminare für Therapeuten. 2016 ist der zweite Band der Freiheits-Untersuchung erschienen: 'Negative Moderne'. Das Buch befasst sich mit den Kategorien Wert, Zeit, Handeln, Möglichsein und Andersheit. Ab 2015 vermehrt auch künstlerische Arbeit (Aktionen, Zeugnisse, Bauten, Szenerien, Objekte, Film/ Tanz). Sven Hillenkamp ist mit einer schwedischen Psychotherapeutin liiert. Das Paar ist unverheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Stockholm und Berlin. Weitere Informationen finden Sie unter: www.svenhillenkamp.com

Leseprobe

- wenn ich nach Dichterart eine Menge von nicht dahin­ gehörenden Dingen mit aufnähme: Wohnstuben und Kleidungsstücke, schöne Gegenden, Angehörige und Freunde, so könnte aus dieser Geschichte eine ellenlange Novelle werden. Dazu habe ich jedoch keine Lust. Ich esse zwar Salat, aber ich esse immer nur das Herz. søren kierkegaard Einst ging ein Träumer weit voran. Jetzt gehn wie Uhren Fragen nach. Nach dem kurzen Schlaf des Lebens lieg ich als Toter lange wach. Ich bin ich: in andern Fesseln. Früh im Fieber, dann zu kalt. Lieg auf meiner Sinne Nesseln. Bin des Schiffes Aufenthalt. Der Jüngre, er, sprach nur in Stürmen. Worte trug die Luft wie Blätter. Der Andre, ich, fand in der Flaute endlich Laute, seinen Retter. Doch alle Worte, die ich aufheb am Ort des Schmerzes, bleiben Klagen. Wörter müssen Wege machen brauchen Stürme, die sie übertragen. Sagen schweigen und Gestirne beleuchten, ohne zu bedeuten. Blumen, Wälder behalten ihre Bilder; aus Meeren tönt kein Glockenläuten. Warme Milch trank ich vor Jahren. Dann kam des blöden Leides Scheide. Ich bin ein schwerer harter Käse den ich langsam nun in Stücke schneide. nils nycander die dinge im vordergrund Als Ola Lundgren einsam war, waren die Geräusche von der Straße unerträglich laut. Auf dem Boden lagen haufenweise Haar, Staub und Schmutz. Überall waren Spiegel, in die Ola blicken musste. Er konnte keine Bewegung machen, ohne dabei gesehen zu werden. Er hatte so viele Gedanken, dass kein Moment ohne Gedanken war, selbst wenn in der Dusche das Wasser kalt wurde, rissen die Gedanken nicht ab. Die Gedanken waren alle so bedeutend, dass Ola sie aussprechen musste. Der Blick aus dem Fenster zeigte eine unendliche Landschaft. Olas Blick verlor sich in Bäumen, Wasser und Himmel. Wenn Ola durch die Stadt ging, stand auf allem, was er sah, etwas geschrieben, und Ola las alles, was geschrieben stand, und hatte gleichzeitig sehr viele Gedanken, die davon abweichen wollten. Ihn schmerzten alle Widersprüche, die Widersprüche in der Kleidung der Menschen und in allem, was geschrieben stand. Überall waren Widersprüche. Auch in der Stadt lag überall Schmutz, furchtbarer Schmutz. Ola betrachtete den Schmutz auf den Bürgersteigen und in den Mauerecken sehr genau. Die Zeit machte den Anschein, als hätte man etwas aus ihr herausgenommen. Sie lag wie ein leerer Schweinedarm in Olas Hand. Viele Frauen hatten etwas, das Olas Vorstellungskraft erregte. Ola betrachtete das Haar der Frauen und merkte es sich genau. Er merkte sich auch ihre Kleidung, den Schmuck und die Schuhe und hatte gleichzeitig sehr viele Gedanken. Überall waren andere Menschen. Sie saßen in Cafés, gingen über die Bürgersteige und lagen auf den Wiesen. Die Menschen bildeten Kreise. Überall waren Kreise anderer Menschen. In den Kreisen wurde sehr viel gesagt und gab es einen schnellen Fluss der Bewegungen, den Ola betrachtete, und gleichzeitig hatte er sehr viele Gedanken. Er konnte sich vorstellen, in den Kreisen zu sein, das Haar der Frauen zu berühren, den Schmutz auf den Bürgersteigen in seinen Mund zu nehmen. Gleichzeitig las er, was auf der Kleidung und der Haut der Menschen geschrieben stand, auf den Wänden und den Schildern. Überall waren Widersprüche. Auch in den Gedanken, die Ola hatte, waren überall Widersprüche. Alles war sehr laut, sehr dicht und roch stark nach irgendetwas. Ola hatte sehr viele Gefühle. Er konnte nichts ansehen, ohne ein starkes Gefühl zu haben. Er empfand immerzu Wut und Lust und Angst und Ekel und große Langeweile. Die Welt bedeutete Ola sehr viel. Jeder Ausblick war unendlich. Olas Blick ging in den Horizont hinein und kehrte nicht zurück. Er ging in die Wolken hinein und kehrte nicht zurück. Er ging in die Blätter der Bäume und kehrte nicht zurück. Er ging ins Wasser und kehrte nicht zurück. Der Blick ging in die offenen Wunden der Menschen in der U-Bahn und kehrte nicht zurück. Die Schönheit der Natur war unendlich, wie der Schmutz, der sich auf den Straßen und in der Wohnung sammelte, wie die Wunden und die Gedanken, die Ola zu allem hatte, wie die Widersprüche. Ola drehte sich nach allem immerzu um. Sein Kopf war immerzu verdreht. Er sah zu den Seiten, nach unten und nach oben, niemals geradeaus. Er blieb oft stehen, um etwas sehr genau zu betrachten. Bei jeder Frau wusste er sofort, wie es wäre, mit ihr zu leben, in ihrer Wohnung zu sein. Er sah das ganze Leben mit der Frau direkt vor sich. Er wusste, wie es in der Küche aussah, im Wohnzimmer, im Schlafzimmer, auf dem Balkon. Er sah jede Einzelheit. Olas Gedanken gingen in dieses Leben und kehrten nicht zurück. Alles war unendlich. Es gab unendlich viel Ekelhaftes und Erregendes, Ängstigendes, zu Hassendes und sehr Langweiliges. Ola hatte sehr viele Gedanken und Gefühle. Sein Körper pochte und juckte immerzu, er roch und schmerzte. Olas Körper umgab ihn wie eine Landschaft. In welche Richtung Ola sich auch wendete, er stieß auf seinen Körper. Er kratzte den Körper, tastete ihn ab, roch an ihm, versuchte, ihn zufriedenzustellen, doch der Körper wollte keine Ruhe geben. Auch in der Stadt waren überall Spiegel, in die Ola blicken musste, er konnte keine Bewegung machen, ohne sich zu sehen, von sich gesehen zu werden. Es gab sehr viel und andererseits sehr wenig. Je jetzt unheimlich groß im Vordergrund standen. Im Vordergrund standen nun all diese Dinge, und wenn Ola das Fenster schloss, wurden die Geräusche in der Wohnung unerträglich laut. Es war Schmutz in der Wohnung - haufenweise Schmutz. der ruhepunkt Der Bruder hatte das Schlagzeug im Esszimmer aufgestellt, immer wieder sprang er vom Tisch auf und trommelte. Die Schwester, die durch das Trommeln in ihrem Bericht unterbrochen wurde, nannte das Verhalten des Bruders gemein und ignorant. Sie sagte: 'Ge, ge, gemein u und i, i, ig, ig, ignorrrant.' Die Schwester hatte eine Sprach- und Gehbehinderung. Jeder Bericht, jede Bewegung der Schwester dauerten sehr lange, während alles, was der Bruder tat, sehr schnell ging. Nach dem Tod der Mutter waren Bruder und Schwester im Haus der Mutter wohnen geblieben. Seit vierzig Jahren teilten sie sich das Haus der Mutter in Björkvik und führten dort Krieg, bis, eines Tages, ein Freund in Björkvik zum Abendessen eingeladen war und bemerkte, dass der Hass, den der Bruder für die Schwester empfinde, ein Langsamkeitshass sei, der Hass, den die Schwester für den Bruder empfinde, ein Geschwindigkeitshass. Vermutlich sei die Schwester aus Bosheit in den vergangenen vierzig Jahren immer noch langsamer geworden, habe ihr Stottern und Schleichen kultiviert, während der Bruder aus Bosheit immer noch schneller geworden sei, sein Sprechen und Trommeln zur Unterbrechung der Schwester immer weiter beschleunigt habe. Um Aufmerksamkeit von der Schwester und anderen Anwesenden zu erhalten, habe der Bruder die Geschwindigkeit und Unterbrechung eingesetzt, die Aufmerksamkeit häufig kurz auf sich gezogen, dagegen habe die Schwester, um Aufmerksamkeit vom Bruder und Anderen zu erhalten, alles unvorstellbar langsam gemacht, in eine unmensc... Leseprobe

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'Literatur ohne ein Gramm Fett' Feridun Zaimoglu-