Beschreibung
1966 machte das 'Selbstgespräch' Améry schlagartig bekannt, nachdem sich der Autor bis dahin mit journalistischer Vielschreiberei für deutschsprachige Zeitungen in der Schweiz über Wasser gehalten hatte. Es sind die Erlebnisse eines Überlebenden der Konzentrationslager Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen, die den Hintergrund für diese Texte bilden. Die Erfahrungen von Tortur, Folter, überhaupt die Bedingungen der Intellektuellen stellen beklemmend-bohrende Fragen nach der conditio humana, nach den Bedingungen des Lebens. Die Grenzen des Körpers werden im KZ auch zu den Grenzen der Welt, und trotz all diesen Erfahrungen hing Améry kaum mehr begreiflich an deutscher Kunst und Österreich.
Autorenportrait
Jean Améry, im Oktober 1912 als Hans Mayer in Wien geboren, zählt zu den bedeutendsten europäischen Intellektuellen der sechziger und siebziger Jahre. Seine bahnbrechenden Essays sind in ihrer Bedeutung vielleicht nur mit den Schriften Hannah Arendts und Theodor W. Adornos zu vergleichen. Als Reflexion über die Existenz im Vernichtungslager stehen sie vermutlich Primo Levis Büchern am nächsten. Zugleich jedoch hat Améry wie kaum ein anderer Intellektueller die deutsche Öffentlichkeit mit französischen Denkern und Schriftstellern bekannt gemacht und konfrontiert. Jean Améry starb im Oktober 1978 durch eigene Hand. Von Irene Heidelberger-Leonard ist bei Klett-Cotta eine Biographie von Jean Améry erschienen. Bei KlettCotta erscheint die neunbändige, reich kommentierte Werkausgabe mit zahlreichen noch nicht veröffentlichten Texten. Damit besteht zum ersten Mal ein Gesamtüberblick über das vielseitige Werk Amérys.
Leseprobe
Jean Améry Vorwort zur ersten Ausgabe 1966 Als im Jahre 1964 in Frankfurt der große Auschwitz-Prozeß begann, schrieb ich den ersten Aufsatz im Zusammenhang mit meinen Erlebnissen im Dritten Reich, nach zwanzig Jahren Schweigens. Ich dachte zunächst nicht an eine Fortsetzung, wollte mir nur über ein Sonderproblem - die Situation des Intellektuellen im Konzentrationslager - klar werden. Als aber diese Arbeit verfaßt war, spürte ich, daß es unmöglich damit sein Bewenden haben dürfe. Auschwitz. Doch wie war ich dahin gelangt? Was war vorher geschehen, was sollte nachher kommen, wie stehe ich heute da? Ich kann nicht sagen, daß ich in der Zeit der Stille die zwölf Jahre des deutschen und meines eigenen Schicksals vergessen oder »verdrängt« hätte. Ich hatte mich zwei Jahrzehnte lang auf der Suche nach der unverlierbaren Zeit befunden, nur, daß es mir schwer gewesen war, davon zu sprechen. Nun aber, da durch die Niederschrift des Essays über Auschwitz ein dumpfer Bann gebrochen schien, wollte plötzlich alles gesagt sein: so kam dieses Buch zustande. Dabei entdeckte ich, daß ich zwar manches bedacht, aber es viel zu wenig klar artikuliert hatte. Erst im Vollzug der Niederschrift entschleierte sich, was ich vorher in einer halbbewußten, an der Schwelle des sprachlichen Ausdrucks zögernden Denkträumerei undeutlich erschaut hatte. Bald zwang sich auch die Methode auf. Hatte ich noch in den ersten Zeilen des Auschwitz-Aufsatzes geglaubt, ich könne behutsam und distanziert bleiben und dem Leser in distinguierter Objektivität gegenübertreten, mußte ich nun erfahren, daß es einfach unmöglich war. Wo das »Ich« durchaus hätte vermieden werden sollen, erwies es sich als der einzig brauchbare Ansatzpunkt. Eine nachdenklich-essayistische Arbeit hatte ich geplant. Eine durch Meditationen gebrochene, persönliche Konfession entstand. Auch sah ich sehr schnell ein, wie sinnlos es wäre, den vielen, teilweise ausgezeichneten dokumentarischen Werken, die zu meinem Themenkreis schon vorliegen, noch ein weiteres beizufügen. Bekennend und meditierend gelangte ich zu einer Untersuchung oder, wenn man will, zu einer Wesensbeschreibung der Opfer-Existenz. Es war ein langsames und mühseliges Vorwärtstasten im bis zum Überdruß Bekannten, das gleichwohl fremd geblieben war. Darum sind auch in diesem Buch die Aufsätze nicht nach der Chronologie des Ereignisses angeordnet, sondern nach der Reihenfolge ihrer Entstehung. Der Leser, sofern er sich überhaupt darauf einlassen mag, sich mir zuzugesellen, muß mich denn wohl auch durch das Dunkel, das ich Schritt für Schritt erhellte, im gleichen Rhythmus begleiten. Dabei wird er auf Widersprüche stoßen, in denen ich mich selbst verfing. So war mir in dem Aufsatz über die Tortur noch durchaus unklar, welche Bedeutung dem Begriff der Würde zu geben sei, und ich tat ihn gleichsam mit einer Handbewegung ab, während ich später, in der Arbeit über mein Judesein zu erkennen glaubte, daß Würde das von der Gesellschaft vergebene Recht auf Leben ist. Ebenso hatte ich, über Auschwitz und Tortur schreibend, noch nicht mit hinlänglicher Deutlichkeit gesehen, daß meine Situation nicht voll enthalten ist im Begriff des »Naziopfers«: erst als ich zum Ende kam und über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein, nachdachte, fand ich mich im Bilde des jüdischen Opfers. Es ist in diesen Blättern, die unzulänglich sein mögen, von denen ich aber beteuern darf, daß sie aufrichtig sind, sehr viel von Schuld die Rede und auch von Sühne, denn ich mochte andere Empfindlichkeiten so wenig schonen wie meine eigene. Dennoch glaube ich, daß diese Arbeit als ein Befund jenseits der Frage von Schuld und Sühne steht. Es wurde beschrieben, wie es bestellt ist um einen Überwältigten, das ist alles. Ich wende mich in diesem Buch nicht an meine Schicksalsgefährten. Sie wissen Bescheid. Jeder von ihnen muß auf seine Weise die Erlebnislast mit sich tragen. Den Deutschen freilich, die in ihrer überwältigenden Mehrheit sich nicht oder nicht mehr betroffen fühlen von den zugleich finstersten und kennzeichnendsten Taten des Dritten Reiches, würde ich gern hier manches erzählen, was ihnen vordem vielleicht noch nicht eröffnet wurde. Schließlich hoffe ich manchmal, es sei diese Arbeit zu einem guten Ende gebracht worden: dann könnte sie alle angehen, die einander Mitmenschen sein wollen. Brüssel, 1966 Jean Améry