Beschreibung
Ein kleines Dorf in Ostanatolien ist in Aufruhr. Ein junges Mädchen soll sterben, weil der Imam sie vergewaltigt hat. Ihr Cousin, gerade aus dem Krieg gegen die kurdische PKK zurückgekehrt, soll sie nach Istanbul bringen, um sie zu ermorden. Doch dort stoßen die beiden auf eine ganz andere Türkei. Ihre Weltbilder geraten ins Wanken.
Autorenportrait
Zülfü Livaneli wurde 1946 in Konya-Ilgin (Türkei) geboren. In den 70er Jahren war er wegen seiner politischen Anschauungen gezwungen, die Türkei zu verlassen, erst 1984 kehrte er zurück. Zülfü Livaneli ist einer der bekanntesten Künstler der Türkei, der mit seinen Liedern, und Kinofilmen international große Erfolge feierte. Einige Jahre war er Mitglied des türkischen Parlaments, besonders setzte er sich dabei für die türkisch-griechische Aussöhnung ein.Für sein breites Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter den »Orhan-Kemal-Literaturpreis«.»Livaneli ist eine unverzichtbare Autorität in der kulturellen und politischen Szene der Türkei.« Orhan Pamuk
Leseprobe
Meryems Flug Meryem schlief den Schlaf einer Siebzehnjährigen - ein Schlummer, tief wie der Van-See. Im Traum kletterte sie splitternackt auf den Nacken des legendären Phönix und flog mit ihm davon. Wie ihr eigener schlanker Körper war auch der Riesenvogel schneeweiß. Er trug sie leicht in ruhigem Flug dahin und brachte sie sicher durch die Wolkenschleier. Meryem hielt sich am Hals des Vogels fest, erfüllt von großem Glück. Die kühle und doch milde Luft strich ihr über Nacken und Schultern, streichelte ihre Beine, mit denen sie sich an den Vogel klammerte, und ließ sie sanft erzittern. 'Ach Vogel! Gesegneter Vogel!', rief sie ohne Stimme. Dies war der Vogel aus den Erzählungen ihrer Mutter, dieser hageren Frau, deren kraftvoller Blick jedermann Furcht einjagte. Von ihm hatte die Mutter nächtelang wundervoll erzählt. Endlich war er auch zu ihnen gekommen. Er schwebte vom grenzenlosen Himmel herab und setzte sich vor ihrem Haus nieder. Aus all den vielen Menschen wählte er Meryem, ließ sie aufsitzen und stieg wieder in den Himmel. Den Erzählungen ihrer Mutter zufolge musste man ihm Milch geben, wenn er 'Gak!', und Fleisch, wenn er 'Guk!' rief. Meryem wusste: Der Vogel trug einen Menschen auf seinem Nacken von einem Land zum anderen, doch durfte man nicht versäumen, ihn zu füttern. Andernfalls wurde der erhabene Vogel zornig und warf die Menschen ab. Die würden dann fallen - bei Gott - sie würden fallen und fallen, bis hinunter zu den Menschen. Meryem wusste das alles, sie kannte sich aus. Unten glänzte tiefblau der Van-See, ein Stück weiter entfernt erahnte man die Stadt Istanbul, auch wenn sie keinen für eine Stadt charakteristischen Anblick bot. Meryem konnte sich an dieser Aussicht gar nicht sattsehen. In diesem Augenblick hörte sie den Vogel 'Gak!' rufen. 'Gak!', schrie er krächzend. 'Gesegneter Vogel, wo soll ich denn hier Milch für dich auftreiben', dachte sie bei sich. 'Wen soll ich inmitten dieses auf tausend Säulen ruhenden Himmels melken, damit du deine Milch bekommst?' Der Vogel machte wieder 'Gak!' Da beschwerte sich Meryem mit lauter Stimme: 'Woher soll ich Milch für dich bekommen? Die gelbe Kuh mit den prallen Eutern, die ich jeden Morgen melke, ist doch nicht hier. Ich kann dir keine Milch beschaffen.' Der Riesenvogel schrie noch lauter und Meryem bekam mit einem Mal große Angst. Denn bei seinem dritten Ruf nach Milch hatte er angefangen zu schaukeln, als wollte er das Mädchen abwerfen. 'Bitte, bitte!', flehte Meryem den Vogel voller Angst an. 'Kann ich dir die Milch nicht nach unserer Rückkehr auf die Erde reichen? Dann will ich die gelbe Kuh melken und dir so viel Milch geben, wie du magst.' Da kam Meryem plötzlich ein Gedanke: Die gelbe Kuh hatte große dralle Euter und sie selbst hatte kleine Brüste. Als sie daraufhin eine ihrer Brüste zusammenpresste, traten aus der Warze Milchtropfen heraus. Sie beugte sich vor, drückte ihre Brust zusammen und benetzte den Kopf des Vogels mit ihrer warmen Milch. Unaufhaltsam nahm der Milchstrom zu. Zunächst waren es nur Tropfen, dann ein feines Rinnsal, doch bald floss die Milch wie aus einer Quelle. Der heilige Vogel trank die Milch, die über seinen Kopf rann, und beruhigte sich. Meryem flog weiter durch die Lüfte, die ihren Körper streichelten, sie fühlte sich ganz leicht und befreit, als wäre sie selbst eine dieser sich auftürmenden Wolken. Später hörte sie den Vogel 'Guk!' rufen. 'Ach, lieber Vogel, woher soll ich im siebenstöckigen Himmel Fleisch für dich bekommen?' Wieder verlangte der Vogel Nahrung. Da fing Meryem erneut an zu klagen und zu flehen, denn dieses Mal sah sie keinen Ausweg. Der Vogel schrie so hässlich, so durchdringend 'Guk!', dass Himmel und Erde erzitterten, und Meryem fürchtete, die Welt ginge unter. 'Du schöner Vogel, heiliger, gesegneter Vogel', begann sie zu flehen. 'Wirf mich nicht ab!' Was sie befürchtete, trat nicht ein; der Vogel warf sie nicht ab. Stattdessen flogen
Schlagzeile
'Livaneli ist eine unverzichtbare Autorität in der kulturellen und politischen Szene der Türkei.' Orhan Pamuk