Beschreibung
Drei Schicksale, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, führt Livaneli zu einer Geschichte zusammen: einen liberalen Professor aus Istanbul, den eine Midlife-Krise beutelt, einen traumatisierten Kriegsveteran und ein geschändetes Mädchen. Die 15-jährige Meryem steht im Zentrum. Sie weiß nichts von der Welt, nur dass sie als Frau alle Schuld auf sich zu nehmen hat. Bis sie erkennt, dass die Welt nicht hinter ihrem ostanatolischen Dorf endet, und ein unumkehrbarer Prozess der Emanzipation beginnt. An der Ägäis stoßen sie schließlich aufeinander. Bei jedem von ihnen löst ihre Begegnung eine Entwicklung aus, die sie herausführt aus der Engstirnigkeit, ob sie sich nun mit religiösem Fundamentalismus, militantem Nationalismus oder pseudoliberalem Anything-goes tarnt. Zülfü Livanelis international erfolgreicher Roman über einen Ehrenmord macht die Widersprüche der heutigen Türkei anhand einer ergreifenden Emanzipationsgeschichte deutlich.
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Autorenportrait
Zülfü Livaneli wurde 1946 in Konya-Ilgin (Türkei) geboren. In den 70er Jahren war er wegen seiner politischen Anschauungen gezwungen, die Türkei zu verlassen, erst 1984 kehrte er zurück. Zülfü Livaneli ist einer der bekanntesten Künstler der Türkei, der mit seinen Liedern, und Kinofilmen international große Erfolge feierte. Einige Jahre war er Mitglied des türkischen Parlaments, besonders setzte er sich dabei für die türkisch-griechische Aussöhnung ein.Für sein breites Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter den 'Orhan-Kemal-Literaturpreis'.'Livaneli ist eine unverzichtbare Autorität in der kulturellen und politischen Szene der Türkei.' Orhan Pamuk
Leseprobe
Meryems Flug Meryem schlief den Schlaf einer Siebzehnjährigen - ein Schlummer, tief wie der Van-See. Im Traum kletterte sie splitternackt auf den Nacken des legendären Phönix und flog mit ihm davon. Wie ihr eigener schlanker Körper war auch der Riesenvogel schneeweiß. Er trug sie leicht in ruhigem Flug dahin und brachte sie sicher durch die Wolkenschleier. Meryem hielt sich am Hals des Vogels fest, erfüllt von großem Glück. Die kühle und doch milde Luft strich ihr über Nacken und Schultern, streichelte ihre Beine, mit denen sie sich an den Vogel klammerte, und ließ sie sanft erzittern. 'Ach Vogel! Gesegneter Vogel!', rief sie ohne Stimme. Dies war der Vogel aus den Erzählungen ihrer Mutter, dieser hageren Frau, deren kraftvoller Blick jedermann Furcht einjagte. Von ihm hatte die Mutter nächtelang wundervoll erzählt. Endlich war er auch zu ihnen gekommen. Er schwebte vom grenzenlosen Himmel herab und setzte sich vor ihrem Haus nieder. Aus all den vielen Menschen wählte er Meryem, ließ sie aufsitzen und stieg wieder in den Himmel. Den Erzählungen ihrer Mutter zufolge musste man ihm Milch geben, wenn er 'Gak!', und Fleisch, wenn er 'Guk!' rief. Meryem wusste: Der Vogel trug einen Menschen auf seinem Nacken von einem Land zum anderen, doch durfte man nicht versäumen, ihn zu füttern. Andernfalls wurde der erhabene Vogel zornig und warf die Menschen ab. Die würden dann fallen - bei Gott - sie würden fallen und fallen, bis hinunter zu den Menschen. Meryem wusste das alles, sie kannte sich aus. Unten glänzte tiefblau der Van-See, ein Stück weiter entfernt erahnte man die Stadt Istanbul, auch wenn sie keinen für eine Stadt charakteristischen Anblick bot. Meryem konnte sich an dieser Aussicht gar nicht sattsehen. In diesem Augenblick hörte sie den Vogel 'Gak!' rufen. 'Gak!', schrie er krächzend. 'Gesegneter Vogel, wo soll ich denn hier Milch für dich auftreiben', dachte sie bei sich. 'Wen soll ich inmitten dieses auf tausend Säulen ruhenden Himmels melken, damit du deine Milch bekommst?' Der Vogel machte wieder 'Gak!' Da beschwerte sich Meryem mit lauter Stimme: 'Woher soll ich Milch für dich bekommen? Die gelbe Kuh mit den prallen Eutern, die ich jeden Morgen melke, ist doch nicht hier. Ich kann dir keine Milch beschaffen.' Der Riesenvogel schrie noch lauter und Meryem bekam mit einem Mal große Angst. Denn bei seinem dritten Ruf nach Milch hatte er angefangen zu schaukeln, als wollte er das Mädchen abwerfen. 'Bitte, bitte!', flehte Meryem den Vogel voller Angst an. 'Kann ich dir die Milch nicht nach unserer Rückkehr auf die Erde reichen? Dann will ich die gelbe Kuh melken und dir so viel Milch geben, wie du magst.' Da kam Meryem plötzlich ein Gedanke: Die gelbe Kuh hatte große dralle Euter und sie selbst hatte kleine Brüste. Als sie daraufhin eine ihrer Brüste zusammenpresste, traten aus der Warze Milchtropfen heraus. Sie beugte sich vor, drückte ihre Brust zusammen und benetzte den Kopf des Vogels mit ihrer warmen Milch. Unaufhaltsam nahm der Milchstrom zu. Zunächst waren es nur Tropfen, dann ein feines Rinnsal, doch bald floss die Milch wie aus einer Quelle. Der heilige Vogel trank die Milch, die über seinen Kopf rann, und beruhigte sich. Meryem flog weiter durch die Lüfte, die ihren Körper streichelten, sie fühlte sich ganz leicht und befreit, als wäre sie selbst eine dieser sich auftürmenden Wolken. Später hörte sie den Vogel 'Guk!' rufen. 'Ach, lieber Vogel, woher soll ich im siebenstöckigen Himmel Fleisch für dich bekommen?' Wieder verlangte der Vogel Nahrung. Da fing Meryem erneut an zu klagen und zu flehen, denn dieses Mal sah sie keinen Ausweg. Der Vogel schrie so hässlich, so durchdringend 'Guk!', dass Himmel und Erde erzitterten, und Meryem fürchtete, die Welt ginge unter. 'Du schöner Vogel, heiliger, gesegneter Vogel', begann sie zu flehen. 'Wirf mich nicht ab!' Was sie befürchtete, trat nicht ein; der Vogel warf sie nicht ab. Stattdessen flogen sie auf den Gipfel eines Berges zu, der spitz wie eine Derwisch-Mütze in den Himmel ragte. Der Berg war so hoch, dass er von Wolken umgeben war. Sein Gipfel erhob sich als ein schroffer Fels aus dem Wolkenmeer. Der Vogel trug Meryem zur Spitze des steil abfallenden Gipfels und setzte sie dort ab. Die scharfen Felskanten schnitten sich in ihren Rücken, ihr nackter Leib zitterte vor Kälte und Furcht wie trockenes Laub im Wind. Sie sah, dass sich der eben noch schneeweiße Kopf des Phönix mit einem Mal veränderte. Er wurde ganz dunkel und überall auf seinem Kopf sprossen rabenschwarze Haare hervor. Sein Schnabel verwandelte sich in eine lange, blutige Zange. Mit abstoßender Stimme, die Himmel und Erde widerhallen ließ, kreischte er: 'Guk!' Andere Vögel suchten das Weite. Und noch einmal rief er: 'Guk!' Voller Furcht erkannte Meryem, dass er nach Fleisch rief, dass er ihr Fleisch wollte. 'Erst hat er meine Milch getrunken, jetzt will er mich verschlingen.' Dann sah sie, wie er seinen blutigen Schnabel zwischen ihre Beine steckte, an diesen unanständigen, schmutzigen Ort der Sünde. Und sie begann sich einzureden: 'Ich träume. Das alles passiert nur in meinem Traum. Alles ist nur Einbildung!' Doch selbst dieser Gedanke konnte sie nicht beruhigen. Mit aller Kraft versuchte sie, den schwarzen Kopf wegzudrücken, ihn von der Scham zwischen ihren Beinen zurückzuschieben. Doch der Vogel war sehr kräftig, er bemerkte die Hände des Mädchens gar nicht. Er fuhr fort, Fleischstücke aus ihr herauszureißen. Dann verwandelte sich der Kopf des Vogels in den eines Mannes mit schwarzem Haar. Meryem erkannte in ihm ihren bärtigen Onkel und bat ihn: 'Onkel, gib zurück, was du mir genommen hast!' Da gab der Vogel ihr die Teile ihres Körpers zurück, stieg in den Himmel auf und verschwand. Meryem, nun ganz allein auf dem Berg, begann die Teile wieder an ihren angestammten Stellen einzufügen. Das Fleisch wuchs sogleich wieder an. Plötzlich erwachte Meryem und dachte: 'Ich will eigentlich gar nicht wach werden! Nie mehr möchte ich aufwachen!' Sie fürchtete sich nicht vor ihrem Traum; das wirkliche Leben ängstigte sie mehr. Meryem öffnete ihre Augen, über die in der kleinen Stadt viel geredet wurde. Wegen dieser Augen, in denen sich von Hellbraun bis Grün tausendundein Farbtöne brachen - so eigenartig, wie man es nie zuvor gesehen hatte -, wurde sie von manchen bewundert, von vielen jedoch angefeindet. Zu Lebzeiten pflegte ihre Mutter zu sagen: 'Die Augen dieses Mädchens stellen die Sonne in den Schatten.' Sie presste beide Hände ganz fest auf ihre Scham, sodass es sie schmerzte. Glücklicherweise war sie erwacht, denn so konnte sie ein wenig der Angst entfliehen, die ihr fast den Verstand raubte. Den Onkel hatte sie verdrängt, sie erinnerte sich nur noch an den Vogel. Sie erinnerte sich nicht mehr, wie sie zur Hütte im Weinberg außerhalb der kleinen Stadt gegangen war, wie sie ihrem Onkel das Essen gebracht hatte, wie sich der große, kräftige Mann auf sie gestürzt und sie vergewaltigt hatte, wie sie ohnmächtig geworden war. Und sie hatte vergessen, wie sie - nachdem sie wieder zu sich gekommen war - aus dem Weinberghäuschen wie von Sinnen nach Hause gelaufen war. All das hatte sie hinter dichten Nebelschleiern verborgen. Auf dem Rückweg lief sie durch den Friedhof, wo Dornen ihr Arme und Beine zerstochen hatten. Nachdem das Blut an ihren Beinen getrocknet war und sie wie ein verletzter Vogel mit den Flügeln um sich zu schlagen begonnen hatte, wurde sie von zwei Burschen gefunden, die sie über den Markt des Städtchens nach Hause führten. Daraufhin breitete sich dort eine große Stille aus, und ihre Familie, die sich scheute, über das Vorgefallene zu sprechen, sperrte sie in ein finsteres Abteil im Keller ein. Nach der Vergewaltigung in der Gartenhütte beim Weinberg hatte sie zu niemandem ein Wort gesagt, und niemand konnte herausfinden, wer die abscheuliche Tat begangen hatte. Meryem war sich zudem nicht sicher, ob sie nur geträumt oder ob das Verbrechen wirklich stattgefun...
Schlagzeile
'Livaneli ist eine unverzichtbare Autorität in der kulturellen und politischen Szene der Türkei.' Orhan Pamuk