Beschreibung
Mit ihrem neuen Roman umkreist Brigitte Kronauer bravourös die Möglichkeiten zwischen der Pragmatik alltäglicher Lebensläufe und den gelingenden Aufschwüngen, den Glücksmomenten in Natur, Liebe und Kunst, die uns bestimmen.Wie in einem Treppenhaus kreuzen sich in diesem Buch die Geschichten und Erinnerungen. Alles scheint der Vorstellungskraft der Schriftstellerin Rita Palka zu entspringen, die sich gelegentlich selbst unter ihr Personal mischt, das verschiedener nicht sein könnte.Ob es nun die Dame im Rollstuhl ist, die ihren ehemaligen Liebhaber auffordert den Don Juan der Nachbarschaft zu spielen; die Kassiererin, die der Tristesse entfliehen will und Prostituierte wird; der Verlagslektor, der sich in einen Kellner verliebt; oder Wally, die nur zwei Nächte ihres Lebens mit einem Mann verbracht hat. Sie alle verbindet die Sehnsucht nach den verdeckten Träumen des Alltags, in einer Welt, die diese unerfüllbar und lächerlich macht. Und so rücken die Figuren mit ihren Ängsten und Niederlagen immer dichter zusammen, ohne zu ahnen, dass eine von ihnen zur Mörderin wird.
Autorenportrait
Brigitte Kronauer, 1940 in Essen geboren, lebte als freie Schriftstellerin in Hamburg. Ihr schriftstellerisches Werk wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis der Stadt Berlin, mit dem Heinrich-Böll-Preis, dem Hubert-Fichte-Preis der Stadt Hamburg, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Jean-Paul-Preis ausgezeichnet. 2005 wurde ihr von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung der Büchner-Preis verliehen. Brigitte Kronauer verstarb im Juli 2019.
Leseprobe
Destruktion Die elegante Frau, wie sie erschrocken am Fenster sitzt! Und was für ein kerzengerader Oberkörper! Sie ist seit ein paar Minuten immer bleicher geworden, verblichen all die schöne Jugendlichkeit, an die doch auch Sie auf den ersten Blick geglaubt haben. Da hilft das Rouge, so vorbildlich auf den Wangenknochen aufgetragen, überhaupt nichts. Ganz weiß ist Helene Pilz geworden. Der Mann bemerkt nichts davon. Er hat ja auch das echte und künstliche Blühen ihres Teints zu Anfang weder unterschieden, noch wenigstens wahrgenommen. »Da«, sagt sie, wie leicht betrunken oder gegen eine große Erschöpfung ankämpfend, »auf der anderen Straßenseite kannst du sie alle begutachten, Frau Bernadotte, Frau Lemnitz, Frau Rottmann, Frau Becher-Hahn. Kein Wunder, daß Frau Mülleis, Wally Mülleis, die große Ausnahme hier, in diesem Gremium fehlt.« Hört er das denn nicht? Er sitzt tiefer als sie, das liegt an dem hölzernen Podest, auf dem ihr Stuhl steht. Ein kleine Rampe führt zu ihr hoch und zu ihm auf den normalen Fußboden runter. Der Mann muß ein guter Sportler sein, etwas Durchtrainiertes, auf dem Sprung Stehendes geht von ihm aus, trotz der ersten grauen Haare, die Sie oben auf seinem Kopf sehen. Er hat seine Stirn gegen den nackten Oberarm der Frau gepreßt. Wirkt es nicht unfreiwillig bußfertig? Auch der Frau, wenn sie den Blick vom Fenster wendet, entgeht das Grau zwischen dem Schwarz nicht. Sie berührt die Strähnen mit der freien Hand. Im ersten Moment wollte sie ihm wohl fünffingrig und roh in die dicken Locken fahren. Dann hat sie es sich mitten in der Bewegung anders überlegt und findet ihre Kursänderung, die sie selbst überrascht, gravierend. Vor Kummer beginnt sie zu lächeln, spielt nur sehr behutsam mit diesem und jenem Haar. Auch Sie werden sich fragen, ob solche Vorsicht nicht übertrieben ist, und ob, natürlich, die Frau in Wahrheit mit Erinnerungen tändelt, und ob nicht die es sind, die sie geistesabwesend nach ihren verschiedenen Tönungen zählt und sortiert. Die Maserung ist anscheinend etwas Neues für sie. Das Haupthaar selbst ist es nicht. Da kennt sie wohl alle Wirbel. Ihr betrübtes Lächeln bleibt ihm verborgen. »Heimkehr des verlorenen Sohnes«, flüstert die Frau schließlich und mit großer Anstrengung, besonders der spöttische Ton hat sie harte Arbeit gekostet. Der Mann sagt noch immer nichts, rührt sich nicht. Da greift die Frau nach einem Messer auf der Fensterbank. Etappenweise prüft sie ihr Gesicht in der spiegelnden Klinge. Sie wird doch nicht zu weinen anfangen? Um dem zuvorzukommen, murmelt sie vor sich hin: »Meine Hände sind richtige Eidechsen geworden.« Eine kaum rückgängig zu machende Brutalität ist das, deshalb fügt sie, mit dem winzigen Überrest einer Hoffnung den Locksatz hinzu: »Ich sollte sie lieber in Handschuhen verstecken.« Da hebt er tatsächlich aufwachend den Kopf, er erinnert sich! Er lächelt sie an: »Helena!« »Also doch«, flüstert die Frau und wird, sehen Sie nur genau hin, ein bißchen rot. Er konzentriert sich und plustert dazu, genau wie früher, ganz kurios den oberen Wangenteil auf. Wie früher legt er den Kaffeelöffel prinzipiell auf die Tischdecke und stellt die Tasse immer neben die Untertasse. Eine Art Freiheitsdurst wahrscheinlich. Von allein fällt es ihm aber nicht vollständig ein, denkt die Frau und wird wieder um das Wangenrouge herum blasser. »Moment, ich hab's gleich, Moment, Moment.« Auch das genau wie damals, denkt die Frau, zur Bekräftigung immer die Wortwiederholung! »Natürlich, ja sicher, der schwarze Samt über der Innenhand, darin der Hotelzimmerschlüssel mit der Nummer nach oben gedreht.« »Dreiundachtzig«, entwischt der Frau. Sie ärgert sich, zu spät, über ihre Voreiligkeit. »Natürlich!« Er schlägt sich locker gegen die Stirn. »Nur kurz hast du böses Mädchen die Hand geöffnet. Dein Mann saß neben dir. Warte, dann verschwand der Schlüssel in deiner Tasche. Dann hast du ihn, warte, im Abendkleid zum Bahnhof gefahren. Jedenfalls war nicht er es, der bei dir übernachtet hat. Das kann ich bezeugen.« Er lacht fröhlich, charmant gockelhaft. Mein Gott, nichts verlernt! »Da steht es wieder vor mir. Ach, du Gute, wie lange das her ist, ein ganzes Leben. Ich hätte dich öfter besuchen sollen. Du Gute und dein treues Gedächtnis!« Weinen kann sie jetzt trotzdem nicht, nicht bei dieser Art von Schmerz zu seinem Wortgetätschel. Es hätte ihrer Niederlage die Krone aufgesetzt. »In dieser Nacht«, fährt sie fort und spielt nun, gewitzter, stammelndes Vergegenwärtigen, »da hast du mir gestanden, daß du mit achtzehn, oder neunzehn? stundenlang versucht hast, die Unterschrift deines Vaters zu imitieren, um dir in seinem Namen Schecks auszustellen.« Das gefällt ihm nicht: »Um Gottes willen. Ich hab's doch dann nie gemacht.« »Und, daß ihr bei Polizeiverhören die milde Zigarettenfolter benutzt, nämlich die Leute mit den gelben Fingerspitzen durch Vorqualmen erst nervös, dann weich kriegt.« »So ein Zeugs hast du aus einer solchen Nacht behalten?« »Du, Schätzchen, hast es in einer solchen Nacht erzählt.« Ah, zumindest ist er jetzt leicht gekränkt! Er fährt ja richtig von ihr zurück. Das hübsche, beleidigte Schnütchen! »Nun, nun«, meint sie, »vielleicht verwechsle ich was, zu lange her.« Und schrecklich ist es, und ein Genuß, so zu lügen! Eigentlich riecht er auch noch wie früher und ahnt nach wie vor nicht im mindesten, was sie für ihn ohne einen einzigen Klagelaut hingeworfen hat. Amour fou, das herrliche Wort! Kein Blick zurück auf den Ehemann und den kleinen, gemeinsamen Sohn (nur allein, bei abgeschlossener Tür), keine Angst vor dem gewaltigen Altersunterschied. Der Wunsch zur Geburt ihres Kindes war aber doch der gewesen, Gott hätte nur dieses eine zugelassen auf der Welt. Unbegreiflich, daß ein solches Wunder ein Massenphänomen sein sollte. Weg mit den unerwünschten Relativierungen durch Milliarden säugender Mütter! Sie alle banalisierten ihren Einzigen. Doch dann, etwas später, hatte es sie durchfahren, an einem Dienstag, während der Arbeit des Fensterputzers, der seine Anzüglichkeiten steif und fest für Service an den Hausfrauen hielt, gerade, als die Scheiben in der Sonne zu blitzen anfingen: Das Leben, die Liebe, die Fülle der Jugend! War sie nicht immer auf solche Leuchttürme zugesegelt, und plötzlich merkte sie, wie sie daran vorüberglitt, wie sie nicht mehr in steiler Vorwärtsfahrt die Lichter im Visier hatte, sondern schon, ohne ihnen nahe gekommen zu sein, in voller Fahrt und Entfernung, begierig darauf zurückblickte? Gerade da mußte dieser hier auftauchen, unwiderstehlich geeignet für ihre Seelenlage. Ein Mann, der sich irgendwann, womit zu rechnen gewesen war, nach vier Jahren und zwei Monaten auf- und davonmachte. Für ihn ging das allmählich vor sich, ihr verriet er sich nach vier Jahren und zwei Wochen in einer einzigen ausschlaggebenden Sekunde. Durch die Schaufensterscheibe irgendeines Geschäftes hindurch, vor der er sie ohne Zeitgefühl warten ließ, plauderte er es aus, in die Augen der blutjungen Kassiererin hinein, das kindlich glückliche, sich brüstende Verführerlächeln, das noch anhielt, als er nach draußen trat, und sofort erlosch, als er sie warten sah, als sie ihm wieder in den Sinn kam. Gefallene Würfel, ein für allemal. Und doch haut es sie beinahe um, wie selbstverständlich er den Sohn spielt mit dem wieder gebeugten, wie reumütig kuschelnden Kopf an ihrem Arm. Nein, nie mehr zurückzuerobern, der Schlitzohrige. Aus diesem anziehend verschlagenen Gesicht heraus empfindet er in aller Unschuld die Welt. Man müßte sich diesen Schnitt der Augen kaufen, mieten, man müßte ihn durch Heirat an sich fesseln können. Dann hätte man eine so leichtsinnige Deutung der Welt, durch pure Mimik vielleicht ansteckend, immer um sich herum. Nun ist der Mensch zurück, in gewisser Weise zufällig, will erotisch neutral hier wohnen, umständehalber, als Freund bei seiner »Guten«, besser noch, so sieht er es nun mal, als Sohn bei der mütterlichen, allem Bösen, allem Irdischen entrückten Altgeliebten, da ihm das Leben einige Schwanzfedern, vielleicht sogar die prächtigsten, ausgerupft hat. Man selbst möchte schreien und ihm ins Gesicht schlagen! Kann nicht mal wegrennen. Man hat keine verrückten Träume gehegt, man ist »alt«, man ist »krank«, man legt ohne Rollstuhl keine größeren Strecken mehr zurück. Aber man hat vorhin beim erregten Schminken, beim Schminken, das eine Erregung im Gesicht bekräftigen sollte, beim Erwägen der Ausschnittiefe noch einmal auf ein Zucken am Horizont gehofft, Widerschein untergegangener Glut, etwas wie ein Zitat zumindest, kein Lodern, das plötzliche Zucken, wenigstens Zwinkern eines Erinnerungsfeuers aber doch? Sie ist tief beschämt, bitte sehen Sie, sie senkt den gedemütigten Kopf. Da berührt sie die Büschel schwarz-grauer Locken unter sich, und, verdammt, er knistert sie an, der bekannte Bettgeruch des ab jetzt, selbst in spirituellster Auslegung, gegen sie für alle Zeit gepanzerten Liebhabers. Statt dessen verlorener, verdorbener Sohn! Wenig fehlt, und wir haben die klassische Pietà-Haltung. Heißt sie nicht auch, Gott sei's geklagt, zu allem Übel mit drittem Namen Maria? Sie müßte im Stammbuch nachsehen. Wie schwer es ist, geschmeidig einen Satz zu sagen, ohne daß man die Tränen hört. »Du leitest also das Kommissariat für Staatsschutz in deiner alten Polizeidirektion, drüben im Osten, nicht mehr?« Die Worte sind ganz manierlich herausgekommen. Ernstgemeinte, mitfühlende Erkundigung. Tatsächlich, haben Sie das gehört? Silbe für Silbe: »Du leitest also das Kommissariat für Staatsschutz in deiner alten Polizeidirektion, drüben im Osten, nicht mehr?« Hui, da spürt man sofort den anderen Wind! Da läuft ihm eine Elektrizität durch den Körper. Schon ist er aufgesprungen, hochgefedert, malerisch in seinem Zorn, der das Schlawinergesicht verschwinden läßt. »Helene, ich bin ein gebrochener Mann!« Sie sollte laut herauslachen, legt aber den Kopf, damit ihr der Mann nicht wegläuft, beherrscht zum Reden auffordernd, im Nachzittern schräg. Innen ist nichts, glaubt sie, ein Keller. Nicht mal die klägliche Dürre der Desillusion, nur ein Hohlraum, in dem der Atem angehalten wird. »Was habe ich anderes getan, als den Ministerpräsidenten und den neuen Innenminister beim Wort zu nehmen!« Schwarze Handschuhe auf dem Samt, in Wirklichkeit war es Satin, der Schlüssel ... »Der frühere Innenminister hat sogenannte fremdenfeindliche Gesinnung mit Milde betrachtet. Verstehst du? Als einer unserer Brüder in Schwarz - Asylbewerber aus Afrika, machte auf offener Straße Randale, seine Freundin ließ ihn nicht an den gemeinsamen Sohn - gefesselt in der Polizeizelle verbrannte, kriegte der Oberrat, der sich intern über das lange Sterben lustig gemacht hatte, bloß einen Verweis. Kapiert, Helene? Der Korpsgeist der Polizei hat aber den, der sich als einziger wegen der Äußerungen des Beamten beim Polizeipräsidenten beschwerte, statt dessen von seiner Stelle weggeekelt. Man bittet dann am Ende von sich aus um Versetzung.« Er gefällt ihr so gut in seiner neuen, erbitterten Unnahbarkeit, daß sie dem Himmel dankt für ihre fast bewegungslosen Beine. Sonst müßte sie aufspringen und ihn berühren. Ach, der empörte Schwung der unverschämten Lippen, die jetzt nichts von Verwöhnung wissen wollen. Nur weiter mit dem schönen, stürmischen Trotz des windigen Mannes! Das immerhin kann sie sich sagen, zur Rache in ihrer sichtbaren und, hofft sie, ihrer unsichtbaren Hilflosigkeit. »Der Neue und der Ministerpräsident wollten dann einen scharfen Kurs. Kampf den extremen Rechten! Hörst du mir zu? Aufmerksamkeit beim Ermitteln erhöht die Fallzahlen, verstehst du? Träumst du oder nicht? Das treibt die Statistik rechtsextremer Delikte im Bundesland hoch. Paßt manchen Herren natürlich nicht. Da ist man plötzlich, das alte Lied, nur ein kleiner Staatsschützer, der die Aufgaben etwas zu wichtig nimmt, der die Kunst des Wegsehens nicht beherrscht.« Wie kleine Kinder bemerkt er sofort jede Abschweifung. »Fast zwanzig Fälle sind aus der Statistik entfernt worden. Was sagte mir der Vizechef der Polizeidirektion? Ich solle die Berichte nicht so schnell schreiben, auch was liegenlassen, nicht immer so genau hinsehen.« »Und die Weisung des Innenministers?« fragt sie artig. »?Aaaaaaaach!? meinte der Vize, der müsse so reden, der könne nicht anders! Sie werden den Kerl wohl in Pension schicken nach dem Trara im Untersuchungsausschuß wegen gedeckter Ermittlungsschlamperei. Zu spät für mich. Ich hab's nicht mehr ausgehalten, ich bin nicht mehr dort.« Sie müßte fragen, wie es mit ihm weitergeht. Hat er den Posten aufgegeben? Sich versetzen lassen? Ist das hier nur eine lange Beurlaubung? Urlaub als Entschädigung? Wie er auf- und abtigert, elastisch. Herrlich gereizter Blick. Sie aber, an ihrem Fensterplatz, wird von Minute zu Minute müder, merkwürdig, sie spürt gerade jetzt ihr Leben verrinnen, aus sich heraussickern, das blutrote, pulsierende Leben, das hier hinter den Scheiben verglüht, ihr falsches, brennendes Leben, wie hinfällig. »Da drüben, die jungen Frauen, Frau Rottmann, Frau Becher-Hahn, Frau Bernadotte, Frau Lemnitz. Sie stehen noch immer zusammen und reden wie wild über ihre Kleinen.« »Denkst du, ich hätte mir das so lammfromm bieten lassen? Kennst du mich so schlecht? So schlecht deinen alten Tom?« Sie müßte zusammenzucken vor Glück über die persönliche Anrede, nur ist die Erschöpfung mittlerweile zu groß. Maßlose Enttäuschung nach maßloser Vorfreude: Zu dumm gewesen! »Natürlich habe ich mich gerächt. Viele Mittel standen mir nicht zu Verfügung. Eines schon. Der Vize ist ein tonloser Mensch, Büromensch, gemütlicher Feigling, Aktentasche, trockener Hund. Da ist die Frau von anderem Kaliber, stolz auf ihr Temperament, das nicht recht zum Zuge kommt. Ich habe sie auf einem Polizeifest kennengelernt. Er war dabei.« Der Schlüssel, nun endlich, für ihr ganzes Leben, ein Schlüssel ohne Nummer, aber mit ihrem Namen darauf: Maßlose Enttäuschung nach maßloser Vorfreude! Was redet er? »Du hast längst begriffen, schlechtes Mädchen, da schwör ich drauf. Ich habe ihm mit seiner Frau die stämmigsten Hörner aufgesetzt, und die spitzesten. Ein Kinderspiel für einen guten Tänzer. Hat mir gutgetan.« Sie möchte ihm befehlen zu verschwinden. Doch aus ihrem Mund, auf den sie hätte schlagen sollen, wenn sie es nur vorher gewußt hätte, glitscht die schwächliche Frage. »Hat sie dich etwa geliebt?« Ein kleiner Schatten, ein bißchen Licht flattert über sein Gesicht wie Bedauern und Stolz: »Ich bin sicher! Sie hatte so was noch nie erlebt.« Bei der zu befürchtenden, aber unterbliebenen Ergänzung »wie du« hätte sie ihn, Tom, den Vorbeigeschneiten, mit ihren armseligen Kräften rausgeworfen. Und wenn sie daran zugrunde gegangen wäre. Gut, daß sie es nicht getan hat, denn plötzlich passiert etwas. Sie ist selbst wie vom Donner gerührt. Wir hören sie lächelnd sagen, bei wohlig rosiger Gesichtsfarbe: »Manchmal hilft mir jemand in den Zoo. An sehr seltenen Glückstagen, ein zweimal im Jahr, ich hab's nicht anders verdient, ist das ohne zu große Ungeduld mein eigener Sohn. Von ihm weiß ich, daß sich sein Vater, mittlerweile erfolgreich als Manager, kürzlich hat porträtieren lassen. Im Zoo seh ich stundenlang zur Stärkung die tropischen Vögel an, diese Verrückten. Irgend jemand holt mich ab, auf Bestellung. Die Vögel erinnern mich an die Frauen, die auf Opernbühnen mitten im Singen, ohne hinzusehen, neuerdings barfuß nach Stöckelschuhen angeln.« Er achtet nicht darauf. Egal, eigensinnig fährt sie fort: »Da, gerade wollte ich eine Fluse von der Tischdecke nehmen. Dabei ist es ein Kaffeefleck. Immer öfter brauche ich jetzt meine kleine Lupe. Sie stammt aus einem Schokoladen-Überraschungsei für Kinder.« Sie läßt sich schlagartig ins Alter fallen wie in eine Ohnmacht. Eine Wonne, es ohne Rücksicht auf sich oder ihn einzugestehen! Aber warum, fragen Sie, warum das auf einmal? Lauert sie nicht sogar tückisch zu ihm hin? »Also geliebt hat sie dich«, sagt sie, in sich gekehrt, mit verblüffend harter Stimme, die ihn zwingt, im Hin- und Herrennen anzuhalten. »Regelrecht im Handumdrehen geliebt? Dann tut sie es noch! Und das schaffst du nach wie vor? Gut, sehr, sehr gut.« Sie scheint einen Plan zu haben, eine Idee, die den Schmerz von eben besänftigt, ja tilgt. Eine stechende Freude funkelt ihr aus den frisch zum Leben erwachten Augen, eine, offen gesagt, nicht ganz geheure Jugendlichkeit. Sie flüstert sich zu, er weiß es nicht: »Schafft der mit links. Es setzt dem Körper die Seele ein, ein Herz aus Fleisch, wo bisher eins aus Stein war. Man zehrt sein restliches Leben davon, daß es an einem zehrt.« Der Mann hört, stutzt, begreift aber nichts. »Und zerrt«, fügt sie richtig ausgelassen hinzu. Sehen Sie nur, wie sie Luft holt zur Vorbereitung für irgendwas! »Noch immer da drüben Frau Lemnitz, Frau Bernadotte, Frau Rottmann, Frau Becher-Hahn! Vier junge Mütter, kein proletarischer Speck, auch kein Kummerspeck, da sie in ihrem Fett schwimmen. Sieh sie dir an, ganz hübsch alle vier. Da stehen sie und schwätzen und sorgen sich über wohlbehütete Kleine, jede über die ihren, die geplante Kontaktpause mit der Konkurrenz, im Hamsterrad, im Familiären, in der Geschäftigkeit, wo sie pomadig und sinnvoll, wenn auch gescheucht von täglichen Pflichten, jeden Tag rennen in gut finanzierter Aufopferung. Hörst du die hohen Milchstimmen? Kinder machen lassen sie sich schon, aber alles in mütterlich duftiger Unschuld, hellrosa, hellblau.« Sie schmunzelt finster erheitert. Tom setzt sich auf seinen Hocker, staunt seine unfreundliche Gute aus der Tiefe sprachlos an. Was ist los mit ihr? »Hellrosa, hellblau, das Schäfchenbunt ist ihre Kriegsfarbe. Ich muß hier hocken, festgeschmiedet ihr unbarmherziges Tapetenmuster anstarren, ewige Wiederholung, eisern gefeites Familienglück. Abgepackt, versiegelt, eins, zwei, drei und vier und fünf und so weiter. Wie sie durch nichts zu erschüttern, Himmel und Hölle fern, aus ihren großen Staatsbürgerautos springen, angefochten von nichts. Jeden Tag die riesigen, vernünftigen Einkaufsladungen. Der Rattenschwanz der Neuanschaffungen, Roller, Sturzhelm, Kinderrad in endloser Bordüre, so daß ich zu den Irren, den Zoovögeln flüchten muß.« Tom erkennt ihre Stimme nicht mehr. Jetzt bemerkt er die roten Flecken auf ihren Wangen. Ja schon, die hat er einmal leidenschaftlich geküßt, doch, das schon, früher mal. Gott, ja. »Da tratschen die Hätschlerinnen in der Sonne! Siehst du die schwarzen Schlagschatten? Das sind die anderen, die Rabenmütter, die ihren Nachwuchs töten. Erst vorigen Samstag hat eine ihren Säugling, der ihr die Treppe runtergefallen war, zwölfmal, wie einen geangelten, noch lebendigen Fisch, gegen die Steine geschlagen, totgeschlagen, aus Angst vor einem behinderten Kind. Danach offenbar keine Schuldgefühle, nur Angst vor Bestrafung als lästiger Folge. Das war in einem anderen Viertel, ach was, in eurem Osten war's. Hier nun aber das Gegenteil. Hier wiegt man die kleinen Herren der Zukunft. Auch wenn die Frauen zusammen schwätzen, lose befreundet. Bei geringster Gefahr hockt die Familie, besten Gewissens, jede für sich unter Panzerglas. Verdammt, wenn sie doch einmal von innen zu beben anfingen, diese gottlos biederen Stirnen, diese Granithäuser!« Was hat sie vorhin gesagt: »Himmel und Hölle fern«? Er, Tom, war gekommen, um ihr sein Herz auszuschütten. Was hat er gesucht? Bewunderung für ihn, den angeschlagenen Couragierten, und vorübergehend ein warmes Nest. Aus der Traum. Was will sie denn? »Worüber beschwerst du dich?« fragt er schließlich, benommen vor Enttäuschung, und bewegt sich, um seine Muskeln zu lockern, durch den Raum, zeigt dabei seinen einsatzfähigen Körper versehentlich, aus Gewohnheit. Der Rücken: Pure heroische Männlichkeit! Selbst die Verdrossenheit steht ihm. Eigentlich gerade die. »Tom! Ein Auftrag für dich, Tom, komm.« Zum ersten Mal nennt sie ihn heute so, zum ersten Mal sieht sie ihn, obschon sie höher sitzt, von unten, wie früher so oft, voller Selbstbewußtsein, in verwegener Sicherheit, an. Um Himmels willen, was will die Frau? »Was verlangst du von mir?« »Du sollst in diese Mütterseligkeit fahren, Tom. Ihnen, einer nach der anderen, das frostige Herz zerreißen. Stürze sie in Depression und Verwahrlosung, der Reihe nach: Bernadotte, Lemnitz, Rottmann, Becher-Hahn. Du hast wie kein anderer das Zeug dazu, Tom! Die kleine, verschrobene Wally Mülleis erspare ich dir, der erspare ich dich. Die hat nichts getan. Sie sollen zersplittern, Frau Becher-Hahn, die jetzt zu Kindergarten und Bäcker wetzt, Frau Lemnitz, die erschrocken auf die Uhr sieht und mit ihrem Kleinsten zum Größeren davonhetzt, Frau Bernadotte, die zum Kinderzahnarzt jagt, Frau Rottmann, die ihre vier vom nervös werdenden Babysitter in Empfang nehmen muß. Höchste Zeit! Höchste Zeit! Hörst du das unherzliche Lachen von ihnen allen? Diese fischigen Umarmungen, die siehst doch auch du! Bring ihnen andere bei. Laß sie brennen und frieren, laß sie in Geistesabwesenheit und Raserei verfallen. Bedenke Tom, ein Heidenspaß, denn die haben ?so was noch nie erlebt?.« Er ist platt. »Wofür hältst du mich? Für den Teufel, den Messias? Meine Liebe, Gute, du bist ein bißchen, nimm's mir nicht übel, regelrecht wahnsinnig geworden mit der Zeit.« »Und wenn es sie zermalmt! Tu endlich was Gutes. Zerstöre sie, zu ihrem Besten zerstöre sie! Es kostet dich nichts. Sie sind alle vier, schwarz, blond, hellbraun, rotbraun, ganz hübsch. Ein Kinderspiel, wie du selbst gesagt hast. Laß sie die Luftballons an der Haustür vergessen, mach, daß ihr hochangesehenes Traben und Hoppeln von Windel zu Milchzahn und Ponyreiten sie, und wenn die Welt drüber unterginge, anzuekeln beginnt. Laß sie ehrvergessen und endlich nicht im Recht sein, Tom.« Tom ist ernst geworden. Wie das Gesicht seiner Altgeliebten leuchtet und wetterleuchtet! Er setzt sich so dicht wie möglich an sie heran: »Du planst einen Rachefeldzug? Schickst mich denen ins Bett? Wofür hältst du mich?« »Für einen Casanova natürlich, für das, was du bist und immer bleiben wirst. Für ein Werkzeug des Himmels, für unwiderstehlich, ob du es drauf anlegst oder nicht.« Sie funkelt ihn an, schmeichlerisch, gnadenlos. »Genügt es nicht, wenn ich nur eine verführe?« »Alle vier müssen dran. Sei nicht ungerecht den Verschmähten, Verschonten gegenüber. Die Reihenfolge bestimmst du selbst. Von diesem Platz aus studiere das Quartett deiner Opfer, bis du fertig bist und dich aus dem Staub machst, unbeschadet. Ihre Männer sind der Typ deiner Feinde, nebenbei gesagt.« Säuselnd fügt sie hinzu: »Ich berufe und ernenne dich offiziell zum Ehebrecher. Meinen weiblichen Rat wirst du bei der Errettung der armen Seelen nicht brauchen.« »Keine Eifersucht, Helena?« »Für immer vorbei. Nur eins: Zwing sie, dich zu lieben! Weniger darf es nicht sein. Jede muß, wenn du sie für die nächste verläßt, ganz einsam sein, muß sich winden in ihrem Schmerz, darf nicht mehr ein noch aus wissen. Es muß sie verwunden für den Rest des Lebens. Hör mir zu, Tom, du bist ein Leichtfuß, ein Luftikus, sonst nichts, nichts zu machen. Doch du kannst sie in richtige Menschen verwandeln, jede einzeln gezeichnet von Schnitten und Narben, Bernadotte, Lemnitz, Rottmann, Becher-Hahn: Sieh mich an!«
Schlagzeile
Ein neuer Schwebetrick der großen Brigitte Kronauer
Informationen zu E-Books
„E-Book“ steht für digitales Buch. Um diese Art von Büchern lesen zu können wird entweder eine spezielle Software für Computer, Tablets und Smartphones oder ein E-Book Reader benötigt. Da viele verschiedene Formate (Dateien) für E-Books existieren, gilt es dabei, einiges zu beachten.
Von uns werden digitale Bücher in drei Formaten ausgeliefert. Die Formate sind EPUB mit DRM (Digital Rights Management), EPUB ohne DRM und PDF. Bei den Formaten PDF und EPUB ohne DRM müssen Sie lediglich prüfen, ob Ihr E-Book Reader kompatibel ist. Wenn ein Format mit DRM genutzt wird, besteht zusätzlich die Notwendigkeit, dass Sie einen kostenlosen Adobe® Digital Editions Account besitzen. Wenn Sie ein E-Book, das Adobe® Digital Editions benötigt herunterladen, erhalten Sie eine ASCM-Datei, die zu Digital Editions hinzugefügt und mit Ihrem Account verknüpft werden muss. Einige E-Book Reader (zum Beispiel PocketBook Touch) unterstützen auch das direkte Eingeben der Login-Daten des Adobe Accounts – somit können diese ASCM-Dateien direkt auf das betreffende Gerät kopiert werden.
Da E-Books nur für eine begrenzte Zeit – in der Regel 6 Monate – herunterladbar sind, sollten Sie stets eine Sicherheitskopie auf einem Dauerspeicher (Festplatte, USB-Stick oder CD) vorsehen. Auch ist die Menge der Downloads auf maximal 5 begrenzt.