Beschreibung
Das Erforschen der Geschichte ist wie auch das naturwissenschaftliche Forschen ein spannender, keineswegs gleichförmiger Prozess, bei dem im Vorfeld oft noch ungewiss ist, zu welchen Ergebnissen die Arbeit führt. Historikerinnen und Historiker experimentieren immer wieder mit neuen Fragen, neuen Methoden und neuen Formen des Erzählens. In offenen, ausführlichen Gesprächen geben hier zehn von ihnen Auskunft über ihre kreative Arbeit. Die Gespräche bieten nicht nur einmalige Einblicke in die Schreib- und Denkwerkstatt der Interviewpartner. Sie liefern auch viele Anregungen, den eigenen Erkenntnisprozess zu reflektieren und neue Wege zu gehen, und machen Lust auf das Schreiben der Geschichte.
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Autorenportrait
Alexander Kraus, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Universität Münster. Birte Kohtz, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Osteuropäische Geschichte der Universität Gießen.
Leseprobe
Witterung aufnehmen, oder: Von der Idee zum Text Doch bevor Erkenntnisse niedergeschrieben werden können, müssen sie entdeckt, oder besser gesagt, konstituiert werden. Also weiter zu den Spuren, dem "Ort, an dem stumme Dinge durch unseren Spürsinn zum Reden gebracht werden". Unsere Frage, wie Kreative - und dazu möchten wir Historikerinnen und Historiker zählen - eigentlich zu ihren Ideen und Narrativen kommen, wie das Neue entsteht, ja wie "Erfinden" funktioniert, hat auch den für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreibenden Niklas Maak in seinem neuen Buch Der Architekt am Strand umgetrieben. In diesem ergründet er den nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgten Imagewandel Le Corbusiers, der sich vom Architekten der "Wohnmaschine" und Vertreter einer technokratisch-mechanistischen Moderne zu einem sich im Einklang mit der Natur befindenden Pionier biomorpher Architekturen mauserte. Dabei interessiert Maak unter anderem, welche Rolle die Lektüren und Relektüren, "Erinnertes" und "Ungeplantes" für das Entwerfen Le Corbusiers spielten. Bezeichnenderweise gleiche Le Corbusiers Lesen und sein Umgang mit dem Erlesenen seiner Leidenschaft für das Auflesen von Muscheln, Krebspanzern und Treibgut. So wie er bei seinen Strandspaziergängen fast nie ohne ein weiteres Fundstück für seine stetig wachsende Sammlung zurückkehrte, nutzte er auch seine Lektüre als eine "intellektuelle Strandgutsammlung": Oft seien eben "die Worte und Begriffe, die er anstreicht, eher so etwas wie das Strandgut, das er am Meer sammelt - rätselhafte, interessant funkelnde Dinge, die als Ausgangspunkt eigener Ideen und Formen dienen". Dass er diese Begriffe oder Ideen aus ihren eigentlichen Kontexten löste, sie umdeutete und vielleicht auch missinterpretierte, war für den Architekten nicht von Belang, folgte er doch seiner Inspirationsquelle Paul Valery auch in der Aussage, dass ohnehin "jede bewusste Wiederaufnahme einer Idee sie zu einer neuen Idee mache". Wie also kommt der Historiker zu seinen Themen, wie entwickelt er aus diesen ein in sich geschlossenes Buch? Üblicherweise verraten die dem eigentlichen Text vorangestellten Vorworte kaum mehr als die angebliche Schaffensdauer und ein wenig über das Arbeitsumfeld. Eine seltene Ausnahme stellt diesbezüglich Alain Corbin dar, der seinem 1998 publizierten Werk Le monde retrouvé de Louis-François Pinagot einzelne Fragmente aus seinem (Arbeits-)Tagebuch voranstellt, die - ganz und gar nicht wie Fragmente wirkend und von einem Hauch von Selbstverliebtheit umweht - seinen persönlichen Reflexionsprozess widerspiegeln: "Ohne Zweifel bin ich der erste, der sich auf Jahre hinaus der Wiederbelebung eines Menschen widmen wird, den er noch nicht kennt, den er in wenigen Minuten als einziger kennen wird und der im Augenblick keine Chance hat, von irgendjemand anderem außer mir selbst ausgegraben zu werden. In dem Moment, in dem ich dies schreibe, ist er tatsächlich noch völlig verschwunden, noch ohne Chance, im kollektiven Gedächtnis jemals als Individuum aufzutauchen." Corbin umreißt in diesem (angeblichen) Eintrag vom 02. Mai 1995, 14 Uhr, seine Idee und Konzeption der Arbeit. Ihn interessiert ein in Vergessenheit Geratener, ein an keinem schriftlich dokumentierten Ereignis Beteiligter, ein den Behörden Unbekannter, der nie in die Fänge der juristischen Strafverfolgung geraten ist, einer, der im Grunde keine "Spuren" hinterließ, da auch kein "außergewöhnliches Ereignis Licht in das Wimmeln der Namenlosen" brachte, zu denen Corbin den fünffachen Vater und Holzschuhmacher der unscheinbaren normannischen Gemeinde Origny-le-Butin rechnet. Dieser wird, so heißt es im Eintrag vom 07. Mai 1995, "für uns das unerreichte Zentrum, der blinde Fleck des Gemäldes bleiben, das ich - trotz seiner Abwesenheit - von ihm ausgehend entwerfen werde, indem ich postuliere, wie er seine Umwelt wahrnahm". Ziel sei demnach eine Geschichtsschreibung, die dem "nachspürt, was das Schweigen der Quellen offenbart". Alain Corbin scheint hier die große Frage des practical turn der Wissenschaftsgeschichte - was tun Wissenschaftler eigentlich, wenn sie forschen - im Kleinen zu beantworten: Er eröffnet seinen Lesern einen Einblick in den Prozess seines Arbeitens, den er - jedenfalls lässt er uns in diesem Glauben - detailliert dokumentiert hat. Wenn dagegen Historikerinnen und Historiker in Interviews befragt werden, so stehen zumeist - wer möchte sich darüber wundern - die Inhalte ihrer Werke selbst und nicht die jeweilige Arbeitspraxis im Zentrum des Gesprächs. Da anders als bei den Laborwissenschaften das Gekritzel der Wissenschaftler, frühe Versuchsskizzen oder Labortagebücher, nach Hans-Jörg Rheinberger die "primären wissenschaftlichen Aufschreibeformen", in den Geisteswissenschaften nur selten dokumentiert werden, fehlt für eine genaue Rekonstruktion ihrer Forschungsprozesse, deren Ergebnisse sich als Bücher manifestieren, zumeist der Einblick in die Schreibstube. Das ist insofern ein Verlust, als Skizzen, bildliche Darstellungen oder eben auch das Gekritzel der Wissenschaftler dazu dienen, komplexe Sachverhalte "aufzuklären". Und hier ist der Begriff durchaus im ursprünglichen Sinne der Aufklärung zu lesen: Visualisierungen bringen Licht ins Dunkel, tragen zur Erleuchtung im Sinne von enlightenment oder lumières bei. Nur sporadisch lassen sich Selbstaussagen finden, die genau diesen Prozess beschreiben, und wenn, dann sind sie selten frei von einer verzerrenden Mythologisierung und geben die Geschichte höchst selektiv wieder. So beispielsweise die von Norbert Elias, dessen von zahlreichen Brüchen begleitete Biographie mit den politischen Verwerfungen des letzten Jahrhunderts eng korreliert. In einem umfangreichen Biographischen Interview, das auf sieben ausführlichen Gesprächen basiert, die A. J. Heerma van Voss und A. van Stolk mit ihm in Bielefeld geführt haben, berichtet Elias nicht nur von seinen Leidenschaften, der "Jagd nach Entdeckungen", sondern auch über die Suchbewegungen, die am Beginn seines epochemachenden Werkes Über den Prozeß der Zivilisation stehen. Just in seinem Londoner Exil angekommen, in der "seltsamen, zwiespältigen Lage [], in der man sich befindet, wenn man vollkommen aus der Lebensbahn geworfen ist", begann er mit Hilfe einer spärlichen Finanzierung durch ein jüdisches Flüchtlingskomitee mit der Arbeit an einem - ja was eigentlich? "Meine Vorstellungen, was ich schreiben würde, waren zunächst ziemlich vage, aber allmählich kam ich durch das Schmökern auf eine Spur, die mir vielversprechend erschien." Die ihm vielversprechend erschien? Und das im Bewusstsein, wie Elias erzählt, vorerst keine Perspektive auf eine gesicherte Zukunft zu haben. Ohne Frage profitierte er davon, dass seine Gönner ihm weder einen Abgabetermin noch einen Umfang vorgaben, da es eben mit einem ersten Band nicht getan sein sollte. Die Schaffensgeschichte selbst scheint seine Interviewpartner aber nicht weiter interessiert zu haben; wie sich überhaupt Historiker mehr dafür zu interessieren scheinen, was ihre Kollegen zu schreiben, als für das, was sie zu sagen haben. Aber auch das Schreiben verschleiert und vernebelt.
Schlagzeile
Geschichte schreiben als kreativer Prozess