Beschreibung
Die Deutschen hatten es nie einfach mit ihm. Entweder hielt er ihnen den Spiegel vor - oder aber sie ihm. Er galt als Gewissen der Nation, bis er in Beim Häuten der Zwiebel bekannte, gegen Ende des Krieges als 17-Jähriger bei der Waffen-SS gewesen zu sein. Er wurde gescholten als sich auch ungefragt stets mahnend einmischender Oberlehrer. Ich gebe kein Bild ab. Sinnlos, mich auf einen Nenner bringen zu wollen, erwiderte Grass. Weltberühmt wurde der Sprachbildhauer durch seine Bücher - Die Blechtrommel ist einer der wichtigsten Romane des 20. Jahrhunderts. Wo immer es ihm nötig schien, mischte er sich ein in Gesellschaft und Politik. Überall, aber am liebsten in Deutschland. Verließ den Elfenbeinturm, nahm die Mühen der Ebene auf sich, trommelte für Willy Brandt und die SPD, wetterte gegen Reaktionäre von links und von rechts. Auch wer noch nie etwas von ihm gelesen hatte, kannte seinen Namen. Grass konnte nicht nur schreiben und leidenschaftlich das Lied der Demokratie singen, er konnte zeichnen, malen, bildhauen. Das in Danzig 1927 geborene Gesamtkunstwerk, Nobelpreisträger und Nationaldichter, war und bleibt überlebensgroß über seinen Tod hinaus. Seine Freunde waren hochkarätig wie seine Feinde, Grass selbst aber betrachtete seinen Ruhm stets als treulosen Gesellen, als Begleiter auf Zeit. Michael Jürgs' Spurensuche in seiner Vergangenheit basiert auf intensiven Gesprächen mit ihm, auf Interviews mit vielen Wegbegleitern, die in seinem Leben Haupt- und Nebenrollen spielten: Es entstand die Geschichte eines Patrioten und Dichters, der die Frauen so liebte wie sein schwieriges Vaterland.Aktualisierte Neuausgabe Ausstattung: s/w-Abbildungen im Text
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Autorenportrait
Michael Jürgs ist Journalist, war Chefredakteur des Stern und von Tempo. Er schreibt regelmäßig u.a. für die Süddeutsche Zeitung, den Tagesspiegel, das Handelsblatt. Er hat viele Sachbücher geschrieben, zum Beispiel über die Treuhand oder unter dem Titel "Sklavenmarkt Europa" über den internationalen Menschenhandel, und zahlreiche Biografien verfasst - so über Romy Schneider, über Axel Springer, über Eva Hesse. Die hier vorliegende Biografie von Günter Grass hat er für diese Neuausgabe grundlegend überarbeitet und aktualisiert.
Leseprobe
Rom, 1. Mai 2000 Es war einer jener sp?n Fr?hlingstage in Rom, an denen der Wind die Wolken wie zerrupfte wei? Watte ?ber den blauen Himmel treibt. Auf den Stra?n trieben die Oleanderb?e erste Bl?ten, am Tiber standen die Platanen in vollem Gr?n. An den Tischen der Stra?ncaf?vorm Pantheon aalten sich deutsche und amerikanische Touristen in T-Shirts und kurzen Hosen. Flavia aber hatte den Kragen hochgeschlagen, sie trug lange Wollstoffhosen und einen dicken, schwarz-wei?karierten Winterblazer. ?er den Arm hatte sie zus?lich eine wei? Strickjacke geschlungen, die mindestens f?nf Kilo wog und ihre zierliche, schmale Gestalt fast vollst?ig verdeckte. Erst sp?r ist mir klar geworden, dass Flavia eigentlich immer friert. ?Kommen Sie bitte nicht vor eins?, hatte sie mir mit respekteinfl??nder Stimme am Telefon gesagt, ?denn ich habe vorher noch einen Termin.? Nat?rlich kam ich, wie alle Leute in Rom, ein bisschen zu sp?- aber Flavia war p?nktlich. Sie stand schon an der Stra? und winkte mir zu. Wir waren zum Mittagessen bei einem gemeinsamen Freund eingeladen, der auf einem Bauernhof vor den Toren Roms wohnt. Er hatte mich gebeten, sie mitzunehmen - ?dabei kannst du Flavia Castelli gleich kennen lernen?, hatte er gemeint, ?sie ist eine ganz imposante Pers?nlichkeit.? Ich glaubte, dass mich eine distinguierte alte Dame erwartete, mit Perlenkette und reserviertem Gesicht. Stattdessen stand Flavia da. Sie mochte ?ber die siebzig sein und ein paar Falten im Gesicht haben, aber ihr Gang war federnd und weit ausgreifend wie der eines jungen M?hens, ihre braunen Augen spr?hten vor Energie. Auf dem Bauernhof hockten wir bald mit den Bewohnern an einer langen Tafel zusammen, die auf der Wiese gedeckt war. Es gab k?stliche Speisen, Flavia sa?inmitten der anderen, die ihre Kinder h?en sein k?nnen. Doch sie wirkte j?nger und lebhafter als mancher ihrer Tischgenossen. Zugleich war jedoch eine seltsame Einsamkeit um sie, eine Aura der Melancholie, die sie von allen zu trennen schien, mit denen sie so fr?hlich scherzte. Auf dem R?ckweg kamen wir miteinander ins Gespr?, Flavia erz?te von ihrer versunkenen Heimat in der Toskana, von ihren Tieren, der Erntezeit, den lustigen Sp?n mit den jungen Verehrern und von jenen zwei Wochen im Sommer 1944, die ihr Leben ver?erten. W?end sie so redete, verlor ich mich hoffnungslos in den labyrinthischen Vorst?en Roms. Erst nach Stunden erreichten wir ihre Wohnung - und blieben weiter im Auto sitzen, denn sie erz?te und erz?te. ?Es war eine sch?ne Zeit in der Villa, sogar mit den Deutschen?, sagte Flavia. Sie berichtete von den lustigen Funkern, von einem Leutnant, der Fritz hie? wie ihr kleiner Hund, und von Rolf, dem Musiker. ?Komisch?, meinte Flavia irgendwann zu mir gewandt, ?dass wir uns ausgerechnet an Lucios Geburtstag kennen lernen.? Im Laufe der Fahrt hatte ich schon einiges ?ber ihren Bruder Lucio geh?rt, jenen legend?n Florettfechter, J?r und Sch?rzenj?r, der 79 Jahre alt geworden w? an diesem 1. Mai 2000. Ein toller Kerl, so stellte ich ihn mir vor, wahrscheinlich w? er jetzt ein angesehener Rechtsanwalt oder vielleicht ein emeritierter Politiker. ?Aber warum musste er sterben??, fragte Flavia und zog die Strickjacke um ihre Schultern zusammen, als ob ihr kalt sei. Wir sa?n noch immer im Wagen, drau?n war es dunkel geworden. Die kleine, knochige Gestalt neben mir auf dem Beifahrersitz war in sich zusammengesunken, der Strom ihrer Worte versiegt. Verstohlen blickte ich zur Seite und betrachtete ihr Profil, im Schein der Stra?nlaternen sah sie wie eine alte Indianerin aus. Seit ein paar Stunden kannte ich diese Person, aber sie war mir schon so lieb und vertraut wie eine langj?ige Freundin. Ich sp?rte den dringlichen Wunsch, Flavia zu verstehen - und so beschloss ich, ihre und Lucios Geschichte zu ergr?nden. Juni 1944: Die Funker kommen ?Aiuto!!!? Ein schriller M?henschrei zerriss die flirrend hei? Sommerluft. ?Hilfe, Edwin will mich k?ssen!? Liliana sprang mit zwei S?en die verwitterten