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Die Hundeesser von Svinia

Erschienen am 10.02.2004
Auch erhältlich als:
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783552052925
Sprache: Deutsch
Umfang: 120 S.
Format (T/L/B): 1.6 x 21 x 13.2 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Svinia, ein Ort im Osten der Slowakei, in der Erweiterungszone der Europäischen Union; und ein Ort, wie aus der Zeit und der Welt gefallen. Dort leben die Ausgestoßenen unter den ärmsten der Europäer, Roma, die so lange umgesiedelt, verfolgt, missachtet wurden, bis sie ihre eigene Geschichte vergaßen. Die 700 in Svinia lebenden Menschen werden selbst von den anderen Roma verachtet, weil sie als Degesi, als "Hundeesser", gelten und eine Kaste der Unberührbaren bilden. Von dieser fremden, nahen Welt berichtet dieses Buch, mit dem uns Karl-Markus Gauß aufs Neue das Staunen über Europa lehrt. "Dort, wo das größte Elend herrscht, stieß ich immer wieder auch auf eine rätselhafte Lebenskraft." (Karl-Markus Gauß)

Autorenportrait

Karl-Markus Gauß, geboren 1954 in Salzburg, wo er auch heute lebt. Er war von 1990 bis 2022 Herausgeber der Zeitschrift Literatur und Kritik. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und oftmals ausgezeichnet, darunter mit dem Prix Charles Veillon, dem Österreichischen Kunstpreis für Literatur, dem Johann-Heinrich-Merck-Preis, dem Jean-Améry-Preis und dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Bei Zsolnay erschienen zuletzt Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer (2019), Die unaufhörliche Wanderung (2020) und Die Jahreszeiten der Ewigkeit (2022).

Leseprobe

Tornal'a war menschenverlassen, als hätte die Bevölkerung ihre eigene Stadt geräumt. Schnurgerade zog die staubige Hauptstraße, die die fünfzehn Kilometer nach Ungarn, vielleicht aber auch bis in die Steppen der Mongolei führte, durch den Ort, in dem an diesem Vormittag um zehn alle Geschäfte, Imbißbuden, Ämter geschlossen hatten. Die zweigeschossigen gelben Häuser, von denen viele aus der k. u. k. Zeit stammten, standen in rechtwinkelig angeordneten Zeilen, waren schmuck herausgeputzt und wirkten unbewohnt. Auf meinem Weg begegnete ich keinem einzigen Menschen, bis ich endlich gedämpfte Stimmen und Geräusche vernahm, die aus dem schwarzen Loch eines Eckhauses nach draußen drangen. Rasch, um mir keine Ausflucht zu lassen, schritt ich durch die geöffnete Tür des Cafés Casablanca, in dem ich den Erdmittelpunkt der Ereignislosigkeit zu entdecken fürchtete. Das Casablanca war eine Kaschemme und bestand aus einem großen, düsteren Raum, der mit dem scharfen Geruch von Urin gebeizt war. An den zehn massiven Holztischen saßen jeweils zwei, drei Arbeiter in Overalls, die bereits das Mittagsmenü, Gulasch mit Knödel, verzehrten und dazu aus klobigen Gläsern, die an die Behälter von Grablichtern erinnerten, Schnaps tranken. Nur wenige von ihnen unterhielten sich, die meisten mampften schweigend, den Blick erschöpft auf den Teller gesenkt, von dem sie ihn nur manchmal hoben, um zum Fernseher über der Theke zu schauen, in dem sich ein paar reiche alte Damen aus Amerika ausgelassen auf slowakisch stritten, was ein imaginäres Publikum im Film fortwährend zum Lachen reizte, während jenes an den Tischen die Greisenalbernheit völlig ungerührt ertrug. Ich mußte mich beeilen, dem Kellner, einem rotblonden, vierschrötigen Mittdreißiger, abzuwinken, daß er nicht, in mechanischer Gewohnheit, auch mir sogleich Gulasch, Knödel und Schnaps brachte. Ein einziger Gast, in meinem Alter, saß mit dem Rücken zum Fernseher. Fast erloschen waren in seinem Gesicht Charme und Trotz des Filous, mit denen er früher vielleicht Erfolg, jedenfalls nicht genug davon, gehabt hatte. Jetzt war er ein dürrer, ausgemergelter Säufer, der alleine Bier aus der Flasche trank und lautlos mit sich selber sprach. Als er einmal alle Gäste versorgt hatte, stellte sich der Kellner vor meinen Tisch, pochte sich an die Brust und sagte: »April - Ich - Budapest«, was er mit triumphierender Miene so lange wiederholte, bis ich ihm nickend zu verstehen gab, daß ich verstanden hatte, wie verzweifelt er war. Wenig später betrat ein Mann den Raum, der sein schweres, staubiges Fahrrad über die Schwelle hob, es an die Theke schob, dort anlehnte und sorgfältig mit einem Nummernschloß absperrte. Sein Tun wurde kaum beachtet, er ging, nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewohnt hatten, zum Tisch des Säufers, setzte sich und bekam vom Ober auf einem Tablett eine Flasche Bier ohne Glas serviert, die er hastig leerte. Die zwei tranken noch eine Zeitlang miteinander weiter, dann erhob sich der Mann unversehens, wie er erschienen war, ging zur Theke, sperrte das Fahrrad auf und schob es grußlos zur Tür hinaus. Auch jetzt, um elf Uhr, war außerhalb des Casablanca kaum jemand zu sehen. Nur vor dem Gemeindeamt kehrte eine Zigeunerin mit einem Zimmerbesen den Gehsteig. Sie freute sich, daß ich sah, wie sie kehrte, und hob, als ich vorbeischlenderte, den Besen in die Höhe, als wollte sie mir Fremden erlauben, auch ein Stückchen zu kehren und, indem ich mich an der Verschönerung der Stadt beteiligte, ein wenig heimisch in ihr zu werden. In Tornal'a stellten nicht die Roma, sondern die Ungarn die größte nation Leseprobe

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