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Der König verneigt sich und tötet

Erschienen am 25.08.2003
Auch erhältlich als:
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446203532
Sprache: Deutsch
Umfang: 208 S.
Format (T/L/B): 2.2 x 20.9 x 13.2 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Das eindrucksvolle Bild einer Lebenserfahrung unter absoluter Herrschaft: Herta Müller, die bedeutende und sprachmächtige Autorin, wuchs auf im Rumänien unter der Diktatur Ceausescus. Hier erfuhr sie Sprache als Instrument der Unterdrückung, aber auch als Möglichkeit des Widerstands und der Selbstbehauptung gegenüber der totalitären Macht. Und dieses Sprachbewusstsein stellt sie neben Erinnerungen an die Kindheit in den Mittelpunkt ihrer poetischen und politischen Selbstbefragung.

Autorenportrait

Autorenseite von Herta Müller

Leseprobe

In jeder Sprache sitzen andere AugenIn der Dorfsprache - so schien es mir als Kind - lagen bei allen Leuten um mich herum die Worte direkt auf den Dingen, die sie bezeichneten. Die Dinge hießen genauso, wie sie waren, und sie waren genauso, wie sie hießen. Ein für immer geschlossenes Einverständnis. Es gab für die meisten Leute keine Lücken, durch die man zwischen Wort und Gegenstand hindurch schauen und ins Nichts starren mußte, als rutsche man aus seiner Haut ins Leere. Die alltäglichen Handgriffe waren instinktiv, wortlos eingeübte Arbeit, der Kopf ging den Weg der Handgriffe nicht mit und hatte auch nicht seine eigenen, abweichenden Wege. Der Kopf war da, um die Augen und Ohren zu tragen, die man beim Arbeiten brauchte. Die Redewendung: »Der hat seinen Kopf auf den Schultern, damit es ihm nicht in den Hals regnet,« dieser Spruch konnte auf den Alltag aller angewendet werden. Oder doch nicht? Warum riet meine Großmutter meiner Mutter, wenn es Winter und draußen nichts zu tun, wenn mein Vater ohne Unterlaß Tage hintereinander sturzbesoffen war: »Wenn du meinst, daß du nicht durchhältst, dann räum den Schrank auf.« Den Kopf still stellen durchs Hin- und Herräumen von Wäsche. Die Mutter sollte ihre Blusen und seine Hemden, ihre Strümpfe und seine Socken, ihre Röcke und seine Hosen neu falten und stapeln oder nebeneinander hängen. Frisch beieinander sollten die Kleider der Beiden verhindern, daß er sich aus dieser Ehe heraus säuft. Wörter begleiteten die Arbeit nur dann, wenn mehrere zusammen etwas taten, und einer auf den Handgriff des anderen angewiesen war. Aber auch da nicht immer. Schwerstarbeit wie Säcketragen, Umgraben, Hacken, mit der Sense mähen war eine Schule des Schweigens. Der Körper war zu beansprucht, um sich im Reden zu verausgaben. Es konnten zwanzig, dreißig Leute stundenlang schweigen. Manchmal dachte ich, beim Zusehen, ich sehe jetzt zu, wie das geht, wenn Leute das Sprechen verlernen. Sie werden alle Wörter vergessen haben, wenn sie aus diesem Schuften wieder draußen sind. Was man tut, muß nicht im Wort verdoppelt werden. Worte halten die Handgriffe auf, sie stehen dem Körper regelrecht im Weg - das kannte ich. Aber die Nichtübereinstimmung zwischen draußen bei den Händen und drinnen im Kopf, das Wissen: jetzt denkst du etwas, was dir nicht zusteht und dir niemand zutraut, das war etwas anderes. Das kam nur dann, wenn die Angst kam. Ich war nicht ängstlicher als andere, hatte nur wie sie wahrscheinlich auch die vielen grundlosen Gründe Angst zu haben - im Kopf gebaute, ausgedachte Gründe. Aber diese ausgedachte Angst ist keine bloß eingebildete, sie ist gültig, wenn man sich mit ihr herumschlagen muß, da sie so wirklich ist wie die von außen begründete Angst. Man könnte sie, gerade weil sie im Kopf gebaut ist, auch kopflose Angst nennen. Kopflos, weil sie keine genaue Ursache und keine Abhilfe kennt. Emil M. Cioran sagte, die Augenblicke der grundlosen Angst kämen der Existenz am nächsten. Plötzliche Sinnsuche, das nervliche Fieber, das Frösteln des Gemüts bei der Frage: Was ist mein Leben wert. Diese Frage machte sich herrisch über das Gewöhnliche her, blinkte aus den ganz »normalen« Augenblicken. Ich mußte weder Hunger leiden noch barfuß laufen, lag abends in frischbezogenem, knirschend gebügeltem Bettzeug zum Einschlafen. Man hatte mir noch das Lied: »Bevor ich mich zu Ruh begeb/ zu dir oh Gott mein Herz ich heb« gesungen, bevor das Licht ausgeknipst wurde. Dann aber wurde der Kachelofen neben dem Bett ein Wasserturm, der vom Dorfrand mit dem wilden Wein. Das schöne Gedicht von Helga M. Nov Leseprobe

Schlagzeile

Literaturnobelpreis 2009

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