Beschreibung
Der Niederländer Henri Deterding gehörte zu den ganz Großen im Ölgeschäft. Er formte 'Royal Dutch/Shell' zum zweitgrößten Mineralölkonzern nach 'Standard Oil'. Noch vor wenigen Jahrzehnten in aller Munde, ist der Selfmademan, Sohn eines Kapitäns, heutzutage vergessen. Es gibt keinen Platz auf der Welt, keine Straße, die nach ihm benannt sind. Dabei war sein Leben außerordentlich spannend. Es ähnelte einem Sprint, den Henri Deterding mehr als 30 Jahre lang durchhielt und der ihn zu einem der reichsten Menschen auf dem Globus machte. Erstmalig wird in diesem Buch das Leben dieses Mannes beschrieben, der seit 1920 Sir Henri hieß und wenige Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im schweizerischen St. Moritz im Alter von 73 Jahren starb. Zum Vergessen von Deterding trug bei, dass er - auch bedingt durch zwei Eheschließungen - in die Nähe der großen Politik geriet. Deterding hatte einen wesentlichen Anteil daran, dass Großbritannien im Ersten Weltkrieg auf einem 'Meer von Öl' dem Sieg entgegengesegelt sei, wie ein zeitgenössisches Urteil über ihn lautete. Die Verbindung mit einer russischen Frau machte ihn in den 1920er-Jahren zu einem erbitterten Gegner der Sowjetunion, die Hochzeit mit einer Hamburgerin zu jemandem, der in den 1930er-Jahren nach Hitler-Deutschland kam, während die anderen gingen. Deterding wurde dadurch zu einer von Spekulationen und Verdächtigungen umgebenen Figur, gipfelnd in dem Vorwurf, dass er Hitler, wenn nicht zur Macht verholfen, so doch finanziell entscheidend unterstützt habe. Jochen Thies ist all diesen Fragen nachgegangen. Er kommt anhand seiner Recherchen zu Ergebnissen, die zu einer Neubewertung von Deterding zwingen. Das Erstaunliche daran ist, dass sie angesichts der Bedeutung des Mannes so lange unterblieben ist.
Autorenportrait
Jochen Thies, Jg. 1944, Dr. phil., Studium der Romanistik, Geschichte und Polit. Wissenschaft, stellv. Leiter der Redenschreibergruppe von Bundeskanzler Helmut Schmidt, Ressortleiter Außenpolitik Die Welt, Chefredakteur Europa-Archiv/Internationale Politik, lebt als Publizist in Berlin.
Leseprobe
Drei Länder könnten ihn für sich beanspruchen. Aber weder die Niederlande, sein Geburtsland, noch Großbritannien, das er im Ersten Weltkrieg rettete, noch Deutschland, von dem er hoffte, dort noch einmal Wurzeln zu schlagen, wollen ihn haben. Auch die Schweiz, wo er seine Urlaube verbrachte, hüllt sich in Schweigen. Keine Straat in Amsterdam, kein Square in London, keine Plakette an einem Chalet in St. Moritz erinnern an den 'Staatenlosen'. Nur in Deutschland kann die Spurensuche erfolgreich verlaufen, in der mecklenburgischen Seenplatte. Der Fall der Berliner Mauer hat es möglich gemacht. Das Weltunternehmen, das er leitete, pflegt sein Andenken nicht mehr. Die lange Zeit üblichen Besuche von Führungskräften bei der Familie sind schon lange eingeschlafen. Dabei war er 'Kopf und Seele des Unternehmens zugleich', wie es in einer der vielen Würdigungen nach seinem Tod hieß. Sir Henri Wilhelm August Deterding, der Begründer des Ölkonzerns Royal Dutch/Shell, ist eine weitgehend unbekannte Figur geworden. Er liegt unter bis heute ungeklärten Vorgängen, die auflösbar sind, und Vorurteilen quasi begraben. Riesige Desinformationskampagnen, auch DDR-Propaganda, wirken bis heute nach. Die Schlüsselfrage für viele heißt: Wie eng waren seine Kontakte zu Hitler? Verhalf er den Nationalsozialisten etwa an die Macht? Das Buch wird diese Fragen beantworten. Sie hätten längst geklärt werden können. Die viel interessantere Frage lautet daher, warum dies bislang nicht geschehen ist. Warum wurden Teile der europäischen Geschichte des 20.Jahrhunderts, auch Abschnitte von Firmengeschichten, unter missbräuchlicher Verwendung seines Namens 'verklappt'? (Unter 'Verklappen' versteht man die Entsorgung von Abfällen, Chemikalien und Giftstoffen in Gewässern und in Meeren.) Um die Person Deterding stand es einmal ganz anders. Vom Ersten Weltkrieg bis in die frühen 1930er-Jahre beflügelte er als Vorstandsvorsitzender des zweitgrößten Mineralölkonzerns die Fantasie der Weltöffentlichkeit. Er war Rockefeller und Onassis zugleich. Deterding blieb jedoch auf eine sympathische Weise ein Mensch des 19.Jahrhunderts, persönlich bescheiden, in London arbeitend und in St. Moritz auf 2000 Metern Höhe residierend, seinem Sehnsuchtsort. Dann ging die Weltgeschichte über ihn hinweg, die er bei Treffen mit den Diktatoren seiner Zeit hoffte beeinflussen zu können. Zwei Ehefrauen trugen zu seinem politischen Schicksal entscheidend bei, die eine aus Russland, die andere aus Deutschland. Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs blieb Deterding erspart, die Selbstkorrektur unterblieb, weil er Anfang 1939 verstarb. Doch fiel er trotz seiner überragenden beruflichen Leistung in Ungnade. Nach einer Odyssee seines Sarges, die erst 2022 ihr Ende fand, ist es an der Zeit, die Geschichte eines 'Selfmademan' und Außenseiters, eines in jeder Hinsicht dramatischen Lebens zu schildern. Henri Deterding hat es verdient, nicht in Vergessenheit zu geraten. Wer sich auf die Suche nach Sir Henri begibt, muss sie in St. Moritz beenden. Er muss die dramatische Alpenkulisse in sich aufnehmen, die vielfältigen sportlichen Möglichkeiten des Wintersportortes zu würdigen wissen und in den Hallen der großen Hotelpaläste der Zeit nachspüren, in denen Deterding nicht nur den Taktstock schwang. Der Niederländer prägte einen Ort mit, dessen Magie trotz aller gesellschaftlichen Veränderungen bis heute anhält. St. Moritz ist für seine Nachkommen noch immer wichtig. Die durch den Zweiten Weltkrieg entwurzelte Familie hat vor einigen Jahren damit begonnen, Deutschland wiederzuentdecken. Auf einer mittlerweile vier Generationen umfassenden Zeitachse lässt sich bilanzieren, dass die erlittenen Blessuren geheilt sind und unterschiedliche Begabungen eine weltweit operierende Familie von Rang haben entstehen lassen. Archivbesuche und Recherchereisen durch Deutschland, die Schweiz, die Niederlande, Großbritannien und Frankreich runden die aus Interviews, privaten Papieren und Dokumenten gewonnenen Eindrücke ab. Berlin, im Februar 2024