Beschreibung
Er setzt sich seinen Walkman auf den Kopf, SMALLTOWN BOY von BRONSKI BEAT, und hört immer wieder diese eine Stelle, RUN AWAY TURN AWAY RUN AWAY TURN AWAY, spult die Kassette immer wieder zurück an diese eine Stelle, THE ANSWERS YOU SEEK WILL NEVER BE FOUND AT HOME. THE LOVE THAT YOU NEED WILL NEVER BE FOUND AT HOME, und dreht die Musik so laut auf, wie es nur geht, WEG HIER LASST MICH RAUS ICH WILL EIN ANDERES LEBEN MIT ANDEREN MENSCHEN UND ANDEREN GESCHICHTEN. Falk Richter zählt zu den bedeutendsten Dramatikern und Regisseuren der Gegenwart. In einer globalen, neoliberalen Gesellschaft, in der jedem grenzenlose Freiheit versprochen werden und tradierte Denk- und Handlungsmuster ihre Gültigkeit verloren haben, stehen die Figuren in Richters Stücken vor der Aufgabe, Zugehörigkeit und Identität neu auszuhandeln, festgezimmerte Grenzen zu unterminieren und die Utopie einer zukünftigen Gesellschaft selbst zu konstruieren. Dabei schwanken sie zwischen Verlustängsten und der Sehnsucht nach Selbstverwirklichung und sehnen sich alle nach einem: Liebe, Nähe, Zugehörigkeit.
Autorenportrait
Falk Richter (*1969, Hamburg) gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Theaterregisseure und Dramatiker. Seit 1994 arbeitet er an vielen renommierten nationalen und internationalen Bühnen wie u.a. dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg, Schauspielhaus Zürich, Schauspiel Frankfurt, Schaubühne Berlin, Maxim Gorki Theater, Hamburgische Staatsoper, Nationaltheater Oslo, Toneelgroep Amsterdam, Théâtre National de Bruxelles, Ruhrtriennale, Salzburger Festspiele und dem Festival d'Avignon. Zu seinen bekanntesten und erfolgreichsten Texten gehören GOTT IST EIN DJ, ELECTRONIC CITY, UNTER EIS und TRUST. Seine Stücke, die von hoher Aktualität zeugen, liegen in mehr als 30 Sprachen vor und werden weltweit gespielt. In den letzten Jahren entwickelte er zunehmend freie Projekte basierend auf eigenen Texten gemeinsam mit einem Ensemble aus Schauspielern, Musikern und Tänzern. Mit der Choreographin Anouk van Dijk entwickelte er mehrere Tanztheater-Projekte, die in ihrer speziellen Verbindung von Text, Tanz und Musik eine neue ästhetische Form begründeten. Ihre gemeinsamen Produktionen NOTHING HURTS, TRUST, PROTECT ME, RAUSCH und COMPLEXITY OF BELONGING touren mit großem internationalem Erfolg. 2013 gewann er den Friedrich-Luft-Preis für seine Musik-Tanz-Theater-Produktion FOR THE DISCONNECTED CHILD, die an der Schaubühne Berlin in Kooperation mit der Staatsoper im Schillertheater uraufgeführt wurde. 2014 feierte er mit seinem Stück SMALL TOWN BOY am Maxim Gorki Theater eine viel beachtete Premiere und begründete an der Schaubühne mit der Inszenierung NEVER FOREVER seine Zusammenarbeit mit dem Choreographen Nir de Volff. NEVER FOREVER wird 2015 auf der Biennale in Venedig zu sehen sein. Richter unterrichtet als Gastprofessor Regie an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" Berlin.
Leseprobe
IDENTITÄTEN IM GLOBALEN VILLAGE Small Town Boys & Girls Im Jahr 1984 ging ein Hit rund um die Welt. Seine eingängige Melodie setzte sich in den Köpfen unzähliger Fans fest. Doch der Song bestach nicht nur durch seinen einprägsamen Beat, sondern wesentlich durch seine politische Intention. Die Rede ist von dem Song Smalltown Boy der britischen Synthie-Pop-Band Bronski Beat. Ihr Sänger Jimmy Somerville bezeichnete den Song einmal als emotionalen Schrei eines Ausgestoßenen ohne Zukunft. Er schildert die bewegende Geschichte eines Jungen, der nach seinem Coming-out aus der heteronormativen Enge einer Kleinstadt ausbricht, um seine Homosexualität in der Großstadt jenseits der Zwänge seines verständnislosen Elternhauses frei leben zu können. Mother will never understand/ Why you had to leave/ For the answers you seek will never be found at home/ The love that you need will never be found at home/ Run away, turn away, run away, turn away, run away/ Run away, turn away, run away, turn away, run away. Kartographierungen des Ich Falk Richters Figuren sind allesamt Small Town Boys und Girls. Um sich aus bürgerlich-familiären Zwängen zu befreien, sind sie einst aufgebrochen zu einem neuen Horizont einer digital verzweigten Welt. Durch ihre Befreiung aus traditionellen Lebenskontexten in der Spätmoderne haben gängige Biografiemuster an Prägekraft für die Entwicklung ihrer eigenen Identität verloren und einen Zerfall sozialer Zugehörigkeit nach sich gezogen. Statt sich an überkommenen Lebensformen zu orientieren, stehen sie vor einem ganzen Spektrum an Optionen. Ihnen kommt die Aufgabe zu, Sinn und Identität selbst zu konstruieren. Der Einzelne ist Architekt und Baumeister seines eigenen Lebensgehäuses1 geworden, der sich von nun an im Supermarkt der Identitätsentwürfe aus unterschiedlichen biografischen Bausätzen eine eigene Identität entwerfen muss. Eine regelrechte Jagd nach dem Ich hat eingesetzt. Sie alle sind Kinder einer fortschreitenden Globalisierung, die nachhaltig Auswirkungen auf ihre Identität genommen hat. Das Global Village bildet durch die grenzenlose Zirkulation von Waren, kulturellen Symbolen, Wertgebäuden und Ideen einen Global Store identitätsstiftender Module. Eingeschliffene Identitätsmuster haben im Zuge dessen ihre Normalität verloren. Identität ist in den vorliegenden Stücken keine starre Konstante mehr, sondern eine stets neu zu konstruierende, zu verteidigende und zu erkämpfende Größe. Die gesellschaftliche Forderung, sich aus biografischen Versatzstücken eine eigene Identität zu konstruieren, stellt für die Protagonisten der Stücke ein störanfälliges Projekt dar. Denn der Gewinn an Optionsspielräumen bringt den Verlust von Sicherheit und Zugehörigkeit mit sich. Überforderung und Erschöpfung stellen sich angesichts der Herausforderung ein, permanent aus dem Supermarkt der Identitäten auswählen zu müssen. Damit einher gehen Ängste, sich falsch zu entscheiden. Richters Stücke zeigen eine globale Gesellschaft, die in eine Vielzahl von widersprüchlichen Lebensformen, Werten und Sinnwelten zersplittert ist, und in der die schwierige Suche nach sich selbst zur Zerreißprobe, die Frage nach Identität zum Identitätsstress wird. Es sind rastlose Individuen in transitorischen Zuständen auf einer erschöpfenden Suche nach Identität und übergeordnetem Sinn im Leben. Zerrissen zwischen tief im Bewusstsein eingebrannten Zwängen und der Sehnsucht nach Selbstentfaltung. Es sind Individuen in der Identitätskrise, die Richter in die Kampfzone spätmoderner Individualisierung und Identitätsarbeit zwingt. Seine Stücke sind Suchbewegungen nach dem Selbst - Kartographierungen des Ich. Kaleidoskop der Gegenwart Charakteristisch für Falk Richters Projekte ist das heterogene Material - wie Textflächen, Monologe, Dialoge, Filmzitate, Songlyrics, Interviews, kulturtheoretische Texte, Drehbücher, Social-Media-Einträge etc. -, das er zu einer hybriden Textur verwebt. Durch die Übersetzung von systemanalytisch inspirierten Identitätsdiskursen in eine theatrale Versuchsanordnung, die den gegenwärtigen Weltzustand einer performativen Erkundung unterzieht, seziert Falk Richter den Gesellschaftskörper seiner Gegenwart mit dem Blick eines Soziologen, dessen Befund eine kulturkritische Perspektive öffnet. In seinen Text-Collagen verdichten sich heterogene Stimmen zu einem gesellschaftlichen Bewusstseinsraum, indem die zitierten Sprachgesten gesellschaftliche Macht-, Herrschafts-, und Geschlechterstrukturen ausstellen. Es sind keine Figuren im psychologisch-mimetischen Sinne, sondern Bewusstseinsströme, Sprachflächen und Diskursverknotungen, die sich temporär in ein figürliches Gehäuse einlagern. Die Stimmen verdichten sich zu Prototypen unserer Gegenwart, einem zeitgebundenen Ensemble von Sozialfiguren der spätmodernen Gesellschaft. Es sind allesamt vertraute Figuren aus der Alltagswelt: aufgeklärte Großstadtmenschen, Hipster, Psychotherapeuten, Social-Media-Junkies, Personalentwickler, vereinsamte Singles, Angestellte, Professoren und Intellektuelle, Künstler und Kreative, Alleinerziehende, Borderliner und Burn-out-Kandidaten, denen wir an flüchtigen Orten, in Transitzonen, den virtuellen Welten des World Wide Web oder in ihrem GRAUENHAFTEN CORPORATE APARTMENT COMPLEX (2 UHR NACHTS) begegnen; Figuren ohne Bodenhaftung und Ort, schwebend im Raum. BUSY. MÜDE. TOT. Sie alle stecken tief in einer Identitäts- und Systemkrise. Alle sind Individuen der neoliberalen Leistungsgesellschaft, die auf unermüdliche Gewinnmaximierung, Effizienz und Produktionssteigerung zielt. Die mit der Aufsprengung tradierter Denkund Handlungsmuster in der Spätmoderne gewonnene Freiheit des Individuums ist in Zwang umgeschlagen. Für die Befreiung von äußeren Zwängen zahlt der Einzelne unbemerkt den Preis, sich von nun an inneren Imperativen unterwerfen zu müssen, die den Leistungs- und Optimierungszwängen einer neoliberalen Strategie entstammen. Die Freiheit zur Selbstverwirklichung verkehrt sich in eine dauerhafte Unzufriedenheit mit sich und setzt eine Optimierungskette in Gang, die kein natürliches Ende kennt. Die neoliberale Ideologie eröffnet einen perfiden Verblendungszusammenhang eines quasi-religiösen Heilsversprechens, das eine schönere neue Welt verspricht, in der der Mensch als vollkommener Übermensch erscheint. Der Einzelne ist nicht länger Rad im Getriebe einer übergreifenden Marktlogik, sondern er stellt sich selbst freiwillig als vorantreibender Motor des Systems zur Verfügung. Die Mechanik der neoliberalen Marktpolitik ist längst in das Bewusstsein der Menschen hineingekrochen und lenkt unbewusst ihre Handlungsentscheidungen. Sie sind gleichsam Unternehmer und Folterknecht ihrer selbst. In diesem Sinne sind die Figuren der vorliegenden Stücke allesamt getrieben-obsessive Workaholics, rastlos auf der Suche nach der nächsten Challenge, dem nächsten Pitch und der Gelegenheit, sich selbst zu optimieren. Nicht ohne Grund bilden Profil Assessments, Selbstmanagement-Workshops, Personalentwicklungsseminare, Therapien und Persönlichkeitsanalysen situative Standards in Richters Stücken. Die Aufgabe der Senior Managerinnen eines fiktiven Consulting-Unternehmens aus FOR THE DISCONNECTED CHILD ist es, die Persönlichkeitsstruktur von Mitarbeitern zu analysieren und Menschen in Bezug auf ihre Fähigkeit zu bewerten, sich langfristig an ein Unternehmen zu binden und sich mit dessen Firmenphilosophie emotional zu identifizieren. Mittels spitzfindiger Interviewtechnik versuchen die Personalentwicklerinnen, ein vollständiges Bild über [die] Persönlichkeitsstruktur zu erlangen, [] im Sinne von wer sind Sie wirklich ganz tief in Ihrem Inneren und wie können die Firma und Sie also Ihr Inneres sag ich jetzt mal noch besser zueinanderfinden. Ihre Techniken zielen auf die vollständige Durchleuchtung von Mitarbeitern, um sie kontrollieren und gewinnbringend für das System einsetzen zu können. Indem die psychischen Persönlichkeitsstrukturen des Einzelnen nach außen gestülpt werden, k...