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Osten Westen Mitte

Spaziergänge eines Planers durch das neuere Berlin

Erschienen am 30.11.2011
Auch erhältlich als:
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783940524140
Sprache: Deutsch
Umfang: 160 S., 10 s/w Fotos, 10 Illustr.
Format (T/L/B): 1.1 x 22 x 13.1 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Berlin - gut zwanzig Jahre nach der Überwindung der Trennung: Wie wurden die beiden Stadthälfte zusammengefügt? Wo entsteht Neues? Wo versagen die Planer? Wie wird gebaut? Wie zeigt sich die Republik in ihren Neubauten? Der Stadtplaner und Architekturkritiker Dieter Hoffmann-Axthelm zieht Bilanz - in langen Streifzügen durch die Stadt. Dazu: Berlin-Fotos von Marek Pozniak mit seiner Blackbox-Kamera.

Autorenportrait

Dieter Hoffmann-Axthelm, Stadtplaner, Architekturkritiker, Essayist, geboren 1940 und aufgewachsen in Berlin. Studierte Theologie, Philosophie und Geschichte; in den 90er Jahren Mitarbeit am Planwerk Innenstadt für Berlin, begleitet seit Jahrzehnten Bauen und Werden in Berlin mit kritischem Blick. Mehrere Bücher, zahllose Beiträge u.a. in arch+, Bauwelt, Ästhetik und Kommunikation

Leseprobe

Man kommt als Sonntagsspazierer, im großen Pulk, von Moabit her das Spreeufer entlang oder in umgekehrter Richtung von der Jannowitzbrücke oder ist vielleicht von Süden her durch den Tiergarten gegangen und hat jetzt das Kanzleramt im Rücken. Oder, besser noch, man kam von Norden, vom Invalidenfriedhof, hatte eben noch bei Sarah Wiener, auf der Ladestraße am Schiffahrtskanal, einen Espresso getrunken und stieß entlang der Westfront der Charité ins Offene und Weite vor: Je weiter man ging, desto offener, heller und weiter wurde es, und dann hat man die Uferbankette der Spree erreicht und atmet tief durch. Ein Berlinpanorama entfaltet sich, Berlin aus der Ferne: links Charité, geradeaus das Fernsehberlin der Politik und, dahinter hochgezogen, Daimler- SonyCity, rechts die Moltkebrücke und das, was am Packhof blieb, jenseits von Brücke und Kanzleramt ahnt man Tiergarten und Siegessäule. Man muß nun einfach nur am Hochufer stehen bleiben, die inszenierte Leere vor einem und die provisorische hinter einem auf sich beruhen lassen, und sich dem Raum hingeben, der, quer dazu, ein unerwartetes Theater aufmacht. Zweifach abgestuft, nach Osten wie Westen in Versprechungen auslaufend, die träumen machen, ist dieser offene Schauraum meine größte Überraschung am neuen Berlin, der sich suchenden Nachwendestadt. Der Fluss bricht gerade hier aus den engen Fassungen des historischen Zentrums aus und entfaltet, bevor er sich fast anonym in Richtung Spandau davon macht, ein überraschendes Maß an Sichtbarkeit und Souveränität. Gewiß nicht vergleichbar mit Themse, Seine, Maas, Rhein, Elbe oder Donau aber immerhin mehr, als man dem brandenburgischen Binnenland zutraut. Dieser Fluß ist eine Überraschung auch und gerade für den eingeborenen Berliner. Er wurde nicht geplant und nicht diskutiert, man hat ihn nicht einmal vermutet. Unerwartet stieg er aus den routinemäßigen Vorkehrungen der Wiederherstellung des Vorhandenen in dem Maße auf, wie die Reparatur der Ufer voranschritt. Mehr als respektvolles Wiederherstellen war auch nicht nötig, die große Form war da. Sie war nur unter den Schichten von Zerstörung und behelfsmäßigem Gebrauch unleserlich geworden. Das Gebiet war allerdings auch ganz anders beschriftet gewesen, kein Gesellschafts-, sondern ein Wirtschaftsraum: der Hafen des dritten Berliner Packhofs, dessen Bau nötig geworden war, als man begann, den zweiten, von Schinkel geplanten, zugunsten des Ausbaus der Museumsinsel zu verlagern. Hier hatte also Schiff an Schiff gelegen. Übrig sind davon nur noch einige Ringe in der Böschung. Mit der Wiederherstellung der Details, der Reparatur und Ersetzung der zerschossenen Steine und eingeschmolzenen Geländer brach die darin angelegte großstädtische Dimension der Sache wieder durch, großer und weltläufiger, als sich die Bewohner der beiden Teilstädte bis dahin ihre Stadt überhaupt hatten vorstellen können. Die alte Stadt reckte sich unter ihren Zerstörungen und kam als neue wieder hervor.