Beschreibung
Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht auf eine weitere Kandidatur als Parteivorsitzender. Im Rechenschaftsbericht über die Zeit seit der desaströsen Wahlniederlage der CDU von 1998 liefert er seine persönliche, aber zugleich objektiv nachvollziehbare Sicht der Dinge. Vor allem der Bruch und die Rivalität mit Helmut Kohl kommen zur Sprache, darüber hinaus beschreibt Schäuble schonungslos und selbstkritisch die sechzehn Monate seines Parteivorsitzes bis zum bitteren Ende. Er analysiert Veränderungen, Versäumnisse und Fehleinschätzungen der CDU und erläutert seine Vorstellungen über die Zukunftsperspektiven einer zur Mitte hin integrierenden Volkspartei im Rahmen des gesamteuropäischen Wertekonservatismus. Das Zusammenwachsen der Welt stellt schwerwiegende gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische und kulturelle Herausforderungen an Politik und Staat Wolfgang Schäuble liefert mit seinem Buch einen der wichtigsten Beiträge von konservativer Seite zu ihrer Diskussion und langfristigen Bewältigung.
Autorenportrait
Wolfgang Schäuble, Jahrgang 1942, sitzt seit 1972 für die CDU im Deutschen Bundestag. Zahlreiche politische Ämter, darunter Bundesinnenminister, Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU und CDU-Vorsitzender. Veröffentlichungen u.a.: "Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte" (1991) und "Mitten im Leben" (2000).
Leseprobe
Vor der Wahl 1998 - Der Weg in die Niederlage
1. 16 Jahre Regierungszeit fordern ihren Tribut
Als am 27. September 1998 um Punkt 18 Uhr die Prognosen der Meinungsforschungsinstitute zum Ausgang der Bundestagswahl über die Fernsehschirme flimmerten, wurde es zur Gewissheit: Die CDU hatte die Wahl verloren - nach 16 siegreichen Jahren das erste Mal. Dass es so kam, war für mich zwar nicht mehr überraschend. Doch mit dem Ausmaß der Niederlage hatten nur wenige gerechnet. In der Schlussphase des Wahlkampfs hatten die Umfragen eine Aufholjagd der Union signalisiert, in den Medien wurde über ein Kopf-an-Kopf-Rennen spekuliert, und viele Wahlkämpfer klammerten sich an den Strohhalm, das Wunder, gemeinsam mit der FDP erneut eine Mehrheit zu erzielen, sei doch noch zu schaffen. Zumindest könnten CDU und CSU knapp vor der SPD landen, das hielten selbst seriöse Kommentatoren für nicht ganz ausgeschlossen. Folglich strapazierten sie bis zum Wahltag mit Verve ihr Lieblingsthema »große Koalition«.
Meine Skepsis gegenüber den Zahlenspielereien wich jedoch nicht. Da auch nach dem 27. September mit fünf Fraktionen im Bundestag zu rechnen war, hätte es schon einen enormen »last minute swing« geben müssen, um die Union in die Lage zu versetzen, den Kanzler stellen zu können. Und davon war trotz einer guten Schlussmobilisierung unserer Anhänger nichts zu spüren. So kam es, dass wir das schlechteste Wahlergebnis seit 1949 einfuhren. Und zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wurde ein Regierungswechsel unmittelbar durch eine Wahl ausgelöst.
Es war also völlig klar, dass dieser 27. September 1998 eine tiefe Zäsur markierte, deren Auswirkungen zunächst gar nicht voll zu übersehen waren, die aber die CDU auch über das Jahr 2000 hinaus noch beschäftigen werden. Die Niederlage beendete 16 Jahre Regierungsverantwortung, eine für westliche Demokratien ebenso ungewöhnlich lange wie erfolgreiche Zeit. In der ersten Hälfte dieser 16 Jahre hatten wir mit den klassischen Mitteln der sozialen Marktwirtschaft eine wirtschaftliche Dynamik in Gang gesetzt, die zu großen Erfolgen am Arbeitsmarkt und bei der Geldwertsta-bilität führte. Der europäische Einigungsprozess gewann gegen verbreitete Skepsis neue Fahrt und steuerte mit der 1986 verabschiedeten Einheitlichen Europäischen Akte die Vollendung des Binnenmarkts an, die nächste Etappe auf dem Weg zum ehrgeizigen Ziel der Wirtschafts- und Währungsunion. Die atlantische Solidarität wurde vor allem durch unseren unbeirrbaren Kurs in der Nachrüstungspolitik der Nato deutlich gestärkt und führte zusammen mit der Überlegenheit freiheitlicher Ansätze in der Wirtschaft und im gesellschaftlichen System des Westens zur Implosion des kommunistischen Herrschaftsbereichs. Der Kalte Krieg wurde friedlich entschieden. Kulminationspunkte dieser sich immer mehr beschleunigenden Entwicklung waren der symbolträchtige Fall der Mauer und die deutsche Wiedervereinigung.
Die zweite Hälfte der sechzehnjährigen Regierungszeit der Union stand im Zeichen der Vollendung der deutschen Einheit, des weiteren Ausbaus der europäischen Einigung und der mühsamen Suche nach einer neuen Weltordnung. Der Sieg der Freiheit, das Ende der Bipolarität eröffneten eine Welt mit ganz neuen Chancen. Aber damit einher gingen in den Neunzigerjahren auch dramatische Veränderungen in dieser entgrenzten Welt, beschrieben mit dem Begriff »Globalisierung«. Revolutionäre Entwicklungen in Wissenschaft und Forschung, insbesondere bei den Kommunikationstechnologien mit kaum zu überblickenden Folgen für Märkte und Arbeitswelt, schufen neben all den positiven Möglichkeiten auch zunehmend Verunsicherung bei vielen Menschen. Allein die neuen Kommunikationsformen, symbolisiert durch den atemberaubenden Siegeszug von Handy und Internet, erzeugten einen sich verstärkenden Modernisierungsdruck, der mit immer größerer Wucht auf die eher behäbigen und teilweise sogar beharrenden gesellschaftlichen Befindlichkeiten drückte. Zwar nahm das kollektive Bewusstsein in der Sonne, Enttäuschungen vor allem in den neuen Bundesländern machten sich breit. Hinzu kamen wirtschafts- und finanzpolitische Probleme, die nicht nur, aber doch zum überwiegenden Teil mit den enormen Folgelasten von 40 Jahren Teilung und Sozialismus zusammenhingen. Nach einer dramatischen Aufholjagd, die durch schwere Fehler des damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Scharping begünstigt wurde, gelang es der Koalition, die Bundestagswahl doch noch zu gewinnen, allerdings nur mit hauchdünnem Vorsprung. Lediglich durch Überhangmandate konnten wir uns einen Zehn-Stimmen-Vorsprung im Bundestag sichern - eine Mehrheit, die keineswegs so komfortabel war, wie sie auf den ersten Blick aussah. Im Gegenteil, angesichts der enormen Probleme, die es zu lösen galt, begann damit ein permanenter Stresszustand, weil diese knappe Mehrheit bei oft widerstreitenden Interessen im Regierungslager immer wieder neu organisiert werden musste. Wer aus Erfahrung lernen wollte, konnte damals nachträglich die Lage der SPD-FDP-Koalition von 1969 studieren mit ihrer ähnlich schmalen Mehrheit.
Der Wahrheit halber muss noch angemerkt werden, dass die Regierungszeit der Union mit allergrößter Wahrscheinlichkeit bereits 1990 geendet hätte, wenn nicht der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung die Karten völlig neu gemischt hätten. Gleichwohl machte uns die Verantwortung für die deutsche Einheit unter dem Gesichtspunkt politischer Stimmung schon wenige Jahre nach der Einheit nicht mehr nur eitel Freude. Die Mühen um den Aufbau Ost und die vielfältigen Enttäuschungen und Brüche in Ost und West haben auch in der Legislaturperiode bis 1998 die Zustimmung zur Politik der Bundesregierung immer wieder eingetrübt.
Unser eigentliches Problem jedoch waren die ansteigenden Arbeitslosenzahlen. Bei den vielen Diskussionen um Lösungswege gerieten immer wieder die Sozialpolitiker mit den Wirtschaftsliberalen aneinander. Die Konfliktlinien liefen sowohl quer durch die Unionsfraktion als auch zwischen CDU/CSU und FDP. In der Presse wurde häufiger prognostiziert, der »Vorrat an Gemeinsamkeiten« in der Koalition sei aufgebraucht, das Regierungsbündnis werde sich nicht mehr lange halten können. Und umgehend stieg wieder das Gespenst der großen Koalition aus seiner Modergruft. Ich habe das immer für Unsinn gehalten, vor allem, weil es nach wie vor zwischen CDU/CSU und FDP eine Übereinstimmung in den grundsätzlichen Fragen unserer Politik gab. Dass die Nerven dennoch öfter blank lagen, ist allerdings auch wahr, und das hatte etwas damit zu tun, dass die Akzeptanz dessen, was wir auf den Weg brachten, in der Öffentlichkeit nicht besser werden wollte. Zwar wurde in der Legislaturperiode 1994 bis 1998 eine Vielzahl von Reformen auf den Weg gebracht (Einkommensteuer, Gesundheit, Rente, Lohnfortzahlung, Kündigungsschutz), und der Zuwanderungsdruck mit all den heiklen Folgen für die innenpolitische Diskussion beruhigte sich weitgehend, nachdem die Änderung des Asylrechts ihre Wirkungen entfaltete. Auch die Verstetigung des Aussiedlerzugangs trug zur Entspannung einer wenige Jahre zuvor noch äußerst labilen und deshalb nicht ganz ungefährlichen Stimmungslage bei. Immerhin hatten wir es geschafft, die jährliche Zuwanderung von Aussiedlern auf maximal 200000 zu begrenzen, wobei die tatsächlichen Zugangszahlen im Laufe der Neunzigerjahre weiter zurückgingen. Aber dennoch standen wir vor dem Phänomen, dass in der öffentlichen Wahrnehmung unsere Reformansätze einerseits als zu spät oder zu zögerlich eingeschätzt wurden, andererseits aber fast jeder konkrete Reformschritt den meisten Menschen schon wieder zu weit ging. Was erfolgreich zustande gebracht worden war, wurde in der Öffentlichkeit als erledigt betrachtet, ohne dass uns daraus ein längerfristig wirksamer Bonus erwachsen wäre. Dafür wirkten die ungelösten Probleme zusammen mit dem subjektiven Ärger über die eine oder andere Belastung infolge der beschlossenen Reformen massiv gegen uns.
Es war wohl unser größter Fehler in diesen vier Jahren, dass wir es nicht geschafft hatten, unsere R
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