Beschreibung
Weit entfernt scheinen die Zeiten, als die Kritik an falschen Lebens-, Arbeitsund Liebesverhältnissen noch auf das Adjektiv "entfremdet" hörte. Einen fast nostalgischen Klang hat das Wort. Wer "Entfremdung" sagt, postuliere ein "wahres Selbst", argumentiere dogmatisch, anthropologisch, essentialisierend, so lautet der gängige Einwand: Kein Kriterium erlaube, zwischen echt und unecht, fremd und eigen genau zu unterscheiden. So verschwand der Kampfbegriff der 1960er-Jahre aus dem Arsenal der politischen Sprache. Das Unbehagen an Lebens-, Arbeits- und Liebesverhältnissen aber ist geblieben, es äußert sich heute in Debatten über Neoliberalismus, Finanzkapital, Burnout und Glückserforschung. Ist gar nichts mehr anzufangen mit der Rede von "Entfremdung"? Vielleicht ist ein revival angebracht, unter anderen, agileren Vorzeichen. In "ent-fremden" steckt das falsche Leben genauso wie der Aufbruch ins wahre; in "be-fremden" verunsichernde Irritation sowie der produktive Affront und in "ver-fremden" das ganze Brecht’sche Drama. "wespennest" spannt den Bogen auf. Um die Grundlagen von Kritik und politischer Begriffsbildung geht es im Schwerpunkt der Frühjahrsausgabe ebenso wie um Leben in der Fremde, um verwirrte Postbeamte und die Angst, in einer Sprache anzukommen. Der Blues wird auch eine Rolle spielen, und das Lob der Entfremdung. Vielleicht lässt sich doch etwas vom alten Potenzial des "fremden" retten.