Autorenportrait
Samantha Shannon, geboren 1991, wuchs im Londoner Westen auf, wo sie mit fünfzehn das Schreiben begann. Sie hat gerade ihr Literaturstudium am St Anne's College in Oxford beendet. »Die Träumerin« ist der erste Band einer siebenteiligen Serie um die junge Seherin Paige Mahoney. Die Übersetzungsrechte wurden in mehr als zwanzig Länder verkauft und eine Verfilmung ist in Arbeit.
Leseprobe
Kapitel Eins Der Fluch Ich stelle mir gerne vor, dass es am Anfang mehr von uns gegeben hat. Vielleicht nicht viele. Aber doch mehr als jetzt. Wir sind die Minderheit, die von der Welt nicht akzeptiert wird. Nicht außerhalb von Fantasyromanen, und selbst die stehen auf dem Index. Wir sehen aus wie alle anderen. Manchmal verhalten wir uns auch wie alle anderen. In vielerlei Hinsicht sind wir wie alle anderen. Wir sind überall, in jeder Straße zu finden. Unsere Lebensweise könnte man als normal bezeichnen, solange man nicht zu genau hinsieht. Nicht alle von uns wissen, was wir sind. Einige von uns sterben, ohne es jemals zu erfahren. Andere wissen es, und wir werden niemals erwischt. Aber wir sind dort draußen. Das könnt ihr mir glauben. * Ich hatte in dem Teil von London gelebt, den man früher Islington nannte, seit ich acht Jahre alt war. Bis ich sechzehn war, besuchte ich eine Privatschule für Mädchen, dann begann ich zu arbeiten. Das war im Jahre 2056 - oder AS 127, wenn man nach dem Scionkalender ging. Von den jungen Männern und Frauen wurde erwartet, dass sie sich ihren Lebensunterhalt verdienten, wo auch immer es ging, was normalerweise bedeutete, dass man irgendwo hinter einem Tresen oder Schalter landete. In der Dienstleistungsbranche gab es immer jede Menge Jobs. Mein Vater dachte, ich hätte ein einfaches Leben, dass ich clever, aber ohne jeden Ehrgeiz sei und mich mit jeder Arbeit zufriedengeben würde, die das Leben mir präsentierte. Wie üblich, lag mein Vater falsch. Seit meinem sechzehnten Lebensjahr hatte ich in der Unterwelt von Scion London gearbeitet - beziehungsweise SciLo, wie es auf der Straße genannt wird. Ich trieb mich zwischen skrupellosen Banden von Sehern herum, die einander jederzeit ans Messer lieferten, um selbst zu überleben. Sie alle gehörten einem Syndikat an, das die gesamte Zitadelle durchzog und unter dem sogenannten Herrn der Unterwelt vereint war. Da wir am Rande der Gesellschaft lebten, wurden wir quasi in die Kriminalität gedrängt, wenn wir irgendwie vorankommen wollten. Und so wuchs der Hass auf uns immer weiter. Wir sorgten dafür, dass die Gerüchte wahr wurden. In diesem ganzen Chaos hatte ich einen festen Platz. Ich war eine Ganovenbraut und der Protegé eines Denkerfürsten. Mein Boss war ein Mann namens Jaxon Hall, der Denkerfürst von Sektor I-4. Er hatte sechs direkte Untergebene. Wir nannten uns die Sieben Siegel. Meinem Vater konnte ich das nicht sagen. Er dachte, ich würde als Assistentin in einer Sauerstoffbar arbeiten, was eine schlecht bezahlte, aber legale Tätigkeit war. Es war eine bequeme Lüge. Er hätte niemals verstanden, warum ich meine Zeit mit Kriminellen verbrachte. So wusste er nicht, dass ich zu ihnen gehörte. Und zwar viel mehr als zu ihm. An dem Tag, der mein Leben veränderte, war ich neunzehn Jahre alt. Zu dieser Zeit war mein Name auf der Straße bereits ein Begriff. Nach einer harten Woche auf dem Schwarzmarkt wollte ich das Wochenende mit meinem Vater verbringen. Jax kapierte nicht, warum ich auch Auszeiten benötigte, für ihn gab es nichts außerhalb des Syndikats - aber er hatte im Gegensatz zu mir auch keine Familie. Zumindest keine lebende. Und auch wenn mein Vater mir nie richtig nahegestanden hatte, fühlte ich mich doch verpflichtet, den Kontakt zu ihm aufrechtzuerhalten. Nur ab und zu mal ein Abendessen und hin und wieder ein Anruf. Ein Geschenk zum Gezeitenfest im November. Der einzige Haken an der Sache waren seine endlosen Fragen: was ich arbeitete, mit wem ich befreundet war, wo ich lebte? Ich konnte ihm keine Antworten geben. Die Wahrheit war einfach zu gefährlich. Hätte er gewusst, was ich in Wirklichkeit tat, hätte er mich vielleicht sogar höchstpersönlich nach Tower Hill geschickt. Vielleicht hätte ich ihm die Wahrheit erzählen sollen. Vielleicht hätte ihn das umgebracht. So oder so bereute ich es nicht, dem Syndikat beigetreten zu sein. Meine Arbeit war vielleicht nicht ehrbar, aber sie machte sich bezahlt. Und wie sagte Jax immer so