Beschreibung
Der neue Burnside - einzigartig, verstörend poetisch. Nach 'Glister' sieht man die Welt mit anderen Augen.John Burnside hat gleich mit seinem ersten auf Deutsch erschienenen Roman Leser und Kritiker fasziniert. Jetzt kommt 'Glister' - ein schockierend ehrliches Buch über Vereinsamung und moralische Verwahrlosung.Erst verschwindet ein Junge spurlos, dann weitere. Doch niemand scheint beunruhigt. Schon lange kümmern sich die Erwachsenen nicht mehr um ihre Kinder, zu sehr sind sie mit sich und ihren Sorgen beschäftigt. Einst lebten sie in einer blühenden Stadt - doch dann siegten Egoismus und grenzenlose Gier. Nun ist alles vergiftet und ohne Hoffnung. Ist es da nicht verständlich, dass die Jungen, die noch eine Zukunft sehen, einfach abhauen? Man will diese Version glauben und geht zur Tagesordnung über. Nur der Polizist Morrison hat etwas Schreckliches gesehen - und schweigt. Denn er hat seine Seele längst verkauft. Doch die Kinder der Stadt sind ruhelos. Der 15-jährige Leonard weigert sich, seinen verschwundenen Freund Liam verloren zu geben. Er macht sich auf die Suche nach der Wahrheit.Burnside gelingt mit 'Glister' etwas Unvergleichliches: Indem er eine vor Spannung vibrierende Geschichte erzählt, hält er einer innerlich erkalteten Gesellschaft den Spiegel vor und schenkt ihr gleichzeitig mit Leonard die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Dieser Roman ist unwiderstehlich, anrührend, verstörend poetisch - und ganz ohne Beispiel.
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Autorenportrait
John Burnside, geboren 1955 in Schottland, ist einer der profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corine-Belletristikpreis des ZEIT-Verlags, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis. Sein Prosawerk erscheint auf Deutsch seit vielen Jahren im Knaus Verlag.
Leseprobe
Wo ich jetzt bin, kann ich noch die Möwen hören. Alles andere verklingt, wie ein Traum gerade dann verklingt, wenn man aufwacht und sich an ihn erinnern will, nur die Möwen sind noch da, wild und heiser krächzend wie immer. Zu Tausenden wogen sie auf und ab und schreien gellend über die Landzunge, laut und ohne Unterlass, weshalb ich nur sie hören kann, sie und ein letztes, fahles Echo der über die Strandkiesel spülenden Flut, ein beharrliches Grollen, das unter dem Gerufe dieser Geistervögel liegt, die ich kaum wahrnahm in dem Leben, das ich hatte, ehe ich durch den Glister ging. Mehr ist von diesem alten Leben auch nicht geblieben: Vögel, die in lauten Schwärmen hungrig über die Landzungen flirren, kaltes, graues Wasser, das ans Ufer schlägt. Nichts weiter. Kein anderes Geräusch und nichts zu sehen als das weite, reine Licht, in das ich aus freiem Willen immer wieder aufs Neue am Ende einer Geschichte trete, die ich bereits zu vergessen beginne.In jener Geschichte heiße ich Leonard, und solange sie geschah, dachte ich, das Leben sei eine Sache und der Tod eine andere, aber das dachte ich nur, weil ich noch nichts über den Glister wusste. Jetzt ist diese Geschichte zu Ende. Ich will sie in Gänze erzählen, auch wenn ich schon an einen Ort entgleite, der vor dem Nennen und Vergessen von Namen liegt. Ich will sie in Gänze erzählen, auch wenn ich sie dabei vergesse, um durch das Erzählen und Vergessen jenen zu vergeben, die darin vorkommen, auch mir selbst. Denn dort beginnt die Zukunft: im Vergessenen, in dem, was verloren ist. Damals, in Innertown, klebte auf den alten Sirupdosen, die wir immer im Eckladen kauften, ein Etikett mit einem Bild von einem Löwen, tot und verwesend im Staub, und ein Schwarm Bienen strömte durch die Schwären und Schatten in seinem Fell, um Honig aus seinen Wunden zu ernten. Ich habe dem Bild vertraut. Ich wusste, es stimmte - denn es gab eine Zeit, in der die Menschen glaubten, dass dieses dunkle Loch, diese Wunde wirklich der Ort war, von dem der Honig stammte. Sie hatten recht, denn alles wird verwandelt, alles wird, und dieses Werden ist die einzige Geschichte, die nie zu Ende geht. Alles wird zu allem anderen, in jedem Augenblick, immerzu. Das weiß ich jetzt - und hier, wo ich bin, gehe ich diese Geschichte immer wieder durch, zähle die Ereignisse auf, an die ich mich erinnere, und kartografiere die Stellen und Schatten, die das Vergessen zurückließ, klammere mich an Strohhalme, als verginge die ganze Welt, als würde nicht nur ich, sondern das Leben selbst in die Vergangenheit entschwinden.Doch nichts entschwindet, auch ich nicht. Nichts entschwindet in die Vergangenheit, es wird höchstens vergessen und so zur Zukunft. Es existiert weiterhin an jenem Ort, den manche Menschen in Innertown das Nachleben nennen - obwohl sie in ihrem Herzen wissen, dass es kein Nachleben gibt, weil es kein Danach gibt. Immer ist Jetzt, und alles - Vergangenheit und Zukunft, Problem und Lösung, Leben und Tod -, alles ist gleichzeitig hier, in diesem Moment. Der Ort aber, an dem ich bin, hat viele Namen, je nachdem, welche Geschichte man glaubt: Himmel, Hölle, Tir Na Nog oder Traumzeit. Dabei wissen wir alle, es ist weder dieses noch jenes, sondern nur der Ort, an dem Geschichten beginnen und enden. Und jetzt beginnt meine Geschichte aufs Neue, ein letztes Mal, noch während sie verglüht. Um mich an sie zu erinnern - um sie zu vergessen - brauche ich mir nur einen Mann im Wald vorzustellen, und schon entfaltet sich die Geschichte wie eine jener Papierblumen, die in dem Augenblick, in dem man sie in eine Schüssel mit Wasser gibt, in einem unfassbar prächtigen Farbenspiel aufgehen: Seeblume, Mondblume, Erdblume, Blumen in den Farben des Himmels, Blumen von der Farbe des Blutes. Ich kenne diese Geschichte. Mir ist, als hätte ich sie schon hundertmal erzählt, und jedes Mal, wenn ich sie erzähle, findet ein weiteres kleines Detail seinen Platz. Irgendwann werde ich sie ein letztes Mal durchgehen, und danach verlasse ich diese Leseprobe