Beschreibung
Birgit und Paul gehen nach dem Studium in eine brandenburgische Kleinstadt. Sie lieben sich, bekommen ein Kind, und alles könnte ein nicht endender Traum sein. Aber während Paul versucht, Birgit auch tagsüber auf Händen zu tragen, träumt Birgit von ganz realen Dingen: zum Beispiel von einem Urlaub am Balaton. Eine Liebesgeschichte, die in den späten 1970ern beginnt, mit dem Mauerfall und neuen Aufstiegschancen für Paul einen Höhenflug erlebt und wenige Jahre später jäh zerbricht. Birgit zieht nach Bonn, Paul verliebt sich in Sandra. Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende.
Autorenportrait
Rita König (*1962) ist diplomierte Betriebswirtin und lebt in Rathenow. Für ihre literarische Arbeit erhielt sie zahlreiche Aufenthaltsstipendien, wie zum Beispiel im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf. Bisher veröffentlichte sie ihre Erzählungen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Beim Der Kleine Buch Verlag / Lauinger Verlag debutierte sie mit "Rot ist schön". Mehr Informationen zur Autorin und ihrem Debutroman finden Sie unter www.rita-koenig.de und www.rot-ist-schoen.de.
Leseprobe
Am frühen Sonntagabend stand ein junger Mann auf dem Bahnsteig, ans Geländer gelehnt, als wäre er damit verwachsen. Der Novemberwind fuhr durch seine Haare und über das blasse Gesicht eines Stubenhockers, dabei hatte der Sommer von April bis Oktober gedauert. Er schob sich einen 'Pfeffi' in den Mund, lutschte ein Loch hinein und kaute den Rest, zwischendurch sog er immer wieder Luft ein, um die Schärfe abzuschwächen. Eine Diesellok verschaffte sich mit dröhnendem Hupen Einlass in den Bahnhof von Großburgstein. Der junge Mann beugte sich vor, seine Unterschenkel berührten einen schwarzen Kunstlederkoffer. Er kniff die Augen zusammen, sei es, weil er eine Brille brauchte, oder aus Angst, jemanden zu verpassen. Dann lehnte er sich wieder zurück. Das Geländer bot Schutz davor, fortgeschoben zu werden, hinauf zum Übergang mit den rußgeschwärzten oder fehlenden Scheiben. Von dort oben hatte er oft auf das Gewirr aus Gleisen geschaut und die Drähte über den E-Loks knistern gehört. Das Quietschen der Bremsen riss ihn aus seinen Gedanken. Fahrgäste hatten unvorschriftsmäßig die Türen geöffnet, bevor der Zug hielt. Studenten, Campingbeutel, Koffer oder handgenähte Seesäcke an den Körper gepresst, quollen aus den Waggons. Wie der süße Brei, dachte der junge Mann. Es hörte gar nicht wieder auf. Er reckte den Kopf; auf den Zehenspitzen konnte er nicht allzu lange stehen, aber er war groß genug, um über die dunkelgrüne Parka-Menge zu schauen und den karierten Mantel - rot, grün und gelb - sofort zu entdecken. Birgit war ein Farbtupfer, sie allein hastete nicht. Das Gesicht des jungen Mannes bekam nun doch Farbe, das Blut pulsierte schneller, er öffnete den Reißverschluss des Parkas, zupfte am Schal, atmete flacher. Birgit hielt einen dunkelbraunen Lederkoffer in der Hand, eine Stofftasche über der Schulter. Für den Bruchteil einer Sekunde stockte sie, dann trat sie auf den jungen Mann zu: 'Paul? Wartest du auf mich?' Er nickte, nahm ihr das schwere Gepäckstück ab. 'Danke', mehr brachte sie nicht heraus. Überrascht und geschmeichelt schritt sie neben ihm her und stellte erstaunt fest, wie vertraut ihr sein Profil bereits war. Eine junge Frau kam den beiden entgegen. Paul schielte auf die schwarzen Wollhandschuhe um den metallenen Bügel des Kinderwagens und spürte augenblicklich seine kalten Finger. Birgit machte ihr Platz und ging dann wieder neben Paul. 'Überleg dir genau, was du willst, und dann setze es durch', hatte die Mutter ihr beigebracht, und sie meinte damit durchaus nicht nur den beruflichen Werdegang. Paul war nicht der erste Junge, der ihr auffiel, aber der erste, den sie formbar fand, und 'formbar' verband sie mit den Worten der Mutter. Paul wirkte größer als nach jenem Seminar, als ihn die dritte Fünf und nicht zwei Koffer belastet hatte. Damals hatte sie ihn zum ersten Mal angesprochen. Abgase mischten sich mit dem Geruch von Braunkohle, den der Wind an den Häuserfronten nach unten drückte. Die Rote Sommerspiere hatte ihre Blätter abgeworfen, die kahlen Zweige begrenzten die großzügigen Rasenflächen vor den Neubauten. Zwischen den Betonplatten des Weges wuchsen Grasbüschel und Vogelmiere, ab und zu Löwenzahn. Birgit seufzte: 'Die Platten stehen hoch, als würden mächtige Wurzeln sie anheben, aber es gibt keine Bäume.' 'Am Kies gespart wahrscheinlich.' Paul blickte auf ihre Stiefel. 'Ich kann gut damit laufen, ich dachte nur die Koffer.' Paul schüttelte den Kopf. Mein Gott, dachte sie, fällt mir denn nichts Besseres ein? Als ob mich der Bau von Gehwegen jemals interessiert hätte. Der Wind pfiff, Birgit schüttelte sich und umklammerte mit steifen Fingern den hochgeschlagenen Jackenkragen. 'Dabei ist der Sommer erst seit zwei Wochen vorbei.' 'Wir haben November', entgegnete Paul. Sonst hielt er den Mund geschlossen; kein Keuchen sollte ihn verraten und Birgit zeigen, dass er alles andere war als eine Sportskanone. Dann musste er doch das Gepäck absetzen, er schwitzte, lockerte den Schal ein wenig, wischte sich die Hände an der Manchesterhose trocken. Birgit drehte sich zu ihm. 'Ich könnte dich morgen in die Milchbar einladen. Magst du?' 'Ja, na klar, ich.' 'Gut.' Paul nahm die Koffer wieder auf und folgte ihr mit weit ausholenden Schritten. 'Drinnen wird es wieder zu warm sein. Im Westen soll es Regler geben für die Heizungen.' Birgit zwinkerte ihm zu, doch er reagierte nicht darauf. Hoffentlich war er in der Eisdiele gesprächiger; so einsilbig war er ihr gar nicht in Erinnerung gewesen. Sie bogen in eine kleinere Straße ein. Auch hier standen auf beiden Seiten Neubauten, aus den späten Sechzigern, viergeschossig und grau verputzt, genau wie das Wohnheim, das am Ende der Straße mit seinen fünf Stockwerken alles überragte. Aus einem angekippten Fenster trieb Kohlgeruch über die Straße. 'Riecht wie in der Mensa.' Birgit drehte sich zu Paul. 'Wie bunt doch der Speisenplan ist: Rotkohl, Grünkohl, Weißkohl.' 'Sauerkraut.' 'Ach ja, vergaß ich.' Sie verzog das Gesicht, wurde langsamer. 'Und Möhren und Rote Bete als Sättigungsbeilage.' Paul war schweigend weitergegangen; Birgit eilte ihm hinterher, wie nach jenem Seminar vor einigen Wochen. Sie hatte Block und Stifte hastig in die Stofftasche geworfen, aus Furcht, Paul zu verpassen. Mit einer sie einen Moment lang selbst ängstigenden Energie hatte sie nach seinem Ärmel gegriffen, drehte ihn zu sich und zischte ihm ins Gesicht: 'Du willst studieren? Warum paukst du nicht einfach die Definitionen? Grundwiderspruch des Kapitalismus, zum Beispiel, das ist doch ganz einfach: Die Entwicklung des Kapitalismus bestimmender Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privatkapitalistischen Aneignung ihrer Ergebnisse. Antagonistischer Widerspruch. Punkt. Ist das so schwer?' 'Du?', war alles, was er herausgebracht hatte; stolz hob sie ihren Kopf noch einen Zentimeter höher und blickte ihm fest in die Augen: 'Du hast mehr drauf.' Damit hatte sie sich umgedreht und war davongegangen. Sie wusste, dass Paul ihr nachschaute. Im Wohnheim stellte Paul die Koffer auf den Linoleumboden, nahm den Schal ab und stopfte ihn in die Parkatasche. Der Pförtner hatte nur kurz aufgesehen, ihren Gruß mit einem Nicken erwidert und seinen Blick wieder in die Zeitung gesenkt. Es war warm, Birgit öffnete den Mantel und ging mit zügigem Schritt auf die Treppe zu. Vor der vierten Etage stellte Paul seinen Koffer ab und trug Birgits bis zu ihrem Zimmer. 'Morgen Nachmittag, halb vier?' Paul stand überpünktlich vor dem Wohnheim. Den Schal hatte er nicht zugebunden, obwohl ein scharfer Ostwind blies, er zog den Reißverschluss des Parkas weiter hinunter und schwitzte immer noch. Er hatte sie schon lange beobachtet. Birgit war nicht das erste Mädchen, das ihm auffiel, aber mit Abstand die Kühlste. Ihr meist gelangweilt wirkender Blick zog ihn an. 'Hochnäsig' hieß sie bei den anderen Mädchen, 'eingebildet' bei den Jungen, die sich von ihrer Kühle nicht angezogen fühlten, was er nicht verstand, aber erleichtert registrierte. Mit einigen jüngeren Mädchen war er schon befreundet gewesen. Eine mit langen schwarzen Haaren hatte ihn vor der Disko aufgegabelt und ins Wohnheim gezerrt. Das Doppelstockbett quietschte; an mehr erinnerte er sich nicht und wunderte sich noch Tage später, keine Angst verspürt zu haben, dass eins von den anderen Mädchen plötzlich das Zimmer betreten könnte. Ein paar Abende verbrachte er mit ihrer Nachfolgerin am nahen, schmutzigen Fluss. Selten nur waren sie für eine kurze Abkühlung ins Wasser gestiegen. 'Sommermädchen' hatte sie sich selbst genannt, als hätte sie um das Ende bereits gewusst. Die anderen Gesichter blieben blass, auch wenn er sich ihre Namen ins Gedächtnis rief. Als Paul Eli von Birgit erzählte, hatte sie wie ein kleines Mädchen gekreischt: 'Du bist ja total verknallt!', dann drückte sie ihn und fragte ihn aus. Schließlich gab sie ihm den Tipp, Birgit zu überraschen. 'Wie denn?', fragte Paul seine große Schwester. 'Das musst du schon selbst h...