Beschreibung
Die Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden und die Verfolgung der Opfer in über 20 Ländern sowie an zahllosen Orten konnten selbst Millionen deutscher Täter und Mittäter nicht allein bewerkstelligen. Die Verantwortung der Deutschen für die Shoah darf zwar nicht relativiert werden, doch es bleibt Fakt, dass die Singularität des Genozids nicht zuletzt dem Sachverhalt geschuldet ist, dass der Völkermord des Haupttäters in seinem ganzen Ausmaß nur möglich war durch ein Heer europäischer Mittäter, die bereitwillig in deutscher Verantwortung oder gar eigenständig mordeten, Konzentrations- und Vernichtungslager bewachten, Deportationszüge bereitstellten, Grenzen schlossen, Flüchtlinge zurückwiesen oder aber ihre eigenen jüdischen Staatsbürger nicht vor der Deportation bewahrten. Dergestalt betrachtet war und ist die Shoah ein deutsches und europäisches Problem. Der vorliegende Band beabsichtigt, in Form von Länderdarstellungen das Zusammenwirken des deutschen Haupttäters und seiner europäischen Mittäter zu schildern und zu analysieren, sowie einen länderbezogenen Überblick über das ganze Ausmaß und die menschliche Tragödie der Shoah zu vermitteln.
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Autorenportrait
Achim Bühl ist Professor für Soziologie an der Beuth Hochschule für Technik Berlin. Seine Forschungsgebiete umfassen u. a. die Themenbereiche Rassismus, Geschichte der Eugenik, Antisemitismus und Holocaustforschung sowie die Bio- und Technikethik. Zuletzt erschienen von ihm bei marix: Rassismus. Anatomie eines Machtverhältnisses (2016), Antisemitismus - Geschichte und Strukturen von der Antike bis 1848 (2019) und Antisemitismus - Geschichte und Strukturen von 1848 bis heute (2020).
Leseprobe
Einleitung Die Geschichte der Shoah ist untrennbar mit der Frage verbunden 'Warum die Deutschen?'. Die Erforschung der Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden ist nicht zuletzt eine Erforschung des Haupttäters, ja von Millionen deutscher Täter und Mittäter. Was unterscheidet, so ist zu fragen, die deutsche Geschichte von der west- und osteuropäischen, was differenziert den deutschen Antisemitismus von der Judenfeindschaft anderer Länder, zumal sich der Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, während des Ersten Weltkriegs sowie in den 1920er und Anfang der 1930er-Jahre in zahlreichen Ländern qualitativ verstärkte. Eine erste Antwort liegt im Kampf relevanter deutscher Bevölkerungsteile gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden, die im Jahr 1812 auf erbitterte Gegenwehr stieß, als der preußische Kanzler Hardenberg die 'Judenemanzipation' auf den Weg brachte. Zwar blieb den Juden der Staatsdienst verwehrt, gleichwohl umfasste die Liste der Gegner der Judenemanzipation die Crème de la Crème der preußischen Gesellschaft. Gewiss war die Gegnerschaft gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden auch in anderen Ländern erheblich, die deutsche Spezifik lag indes darin, dass bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts bedingt durch die späte deutsche Nationalstaatsbildung das Völkische einen hohen Stellenwert einnahm und in der zweiten Hälfte zum Rassischen mutierte. Im ideologischen Konstrukt der Judenhasser nahm 'der Jude' die Rolle der 'Gegenrasse' ein, des kulturellen Zerstörers wie biologischen Verunreinigers deutschen Blutes. Auf Basis einer biologistisch-völkisch orientierten Nationalstaatszugehörigkeit war der Jude der 'Nicht-Deutsche', ein 'fremdes Element', das im historischen Kontext des Imperialismus den Volkskörper im 'Kampf ums Dasein' schwäche.Der Kampf gegen die 'Judenemanzipation' blieb in der jüngeren deutschen Geschichte ein Kontinuum. Gegnerische Stimmen einer rechtlichen Gleichstellung der Juden ebbten nicht ab, als das Deutsche Kaiserreich im Jahr 1871 den Juden die volle Gleichberechtigung gewährte und diese nunmehr auch zum Staatsdienst zuließ. Nichtakzeptanz der Juden als Deutsche mischte sich von nun an hochgradig mit Sozialneid sowie der Bereitschaft, den Juden Akzeptanz wie gesellschaftliche Anerkennung schuldig zu bleiben. Die im Unterschied etwa zu Frankreich verspätete wie von oben erfolgte Gründung des Deutschen Reichs etablierte einen kapitalistischen Nationalstaat, der im Zeitalter des Imperialismus seinen 'Platz an der Sonne' auch mit kriegerischen Mitteln wie dem Ersten Weltkrieg zu erringen gedachte und dessen Aggressivität im Vorfeld des Kriegsgeschehens im kolonialen Völkermord an den Herero und Nama zum Ausdruck kam. Im wilhelminischen Kaiserreich mischten sich Rassenlehre, Sozialdarwinismus, Eugenik sowie Antisemitismus zu einem integralen, sich wechselseitig verstärkenden Gemisch. Die Gewaltförmigkeit dieses 'ideologischen Gebräus' richtete sich gegen den imaginierten 'Fremden' und suggerierte die Unausweichlichkeit eines 'Rassenkampfs', die Notwendigkeit einer 'Ausmerzung rassisch Minderwertiger', die Unverzichtbarkeit von 'Zwangssterilisierung', 'Euthanasie' und 'Aufnordung' sowie das Gebot der Führung eines 'Kampfs um Lebensraum', damit die höherwertige 'arische Rasse' vor dem Untergang bewahrt werde.Der deutsche Antisemitismus unterschied sich von der Judenfeindschaft anderer Länder dadurch, dass er zur Zeit der Romantik und erst recht ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in entscheidendem Maß eliminatorischer Antisemitismus war, wenngleich zu diesem Zeitpunkt noch maßgeblich Judenhass des Wortes. Für völkische Autoren wie Ernst Moritz Arndt (1769-1860) waren Juden 'Ungeziefer' und 'Pest', für Hartwig Hundt-Radowsky (1780-1835) ein 'physisches und moralisches Gift' sowie 'beschnittene Vampyre', die 'zusammen getrieben, und wie Raubthiere todt geschossen' werden sollten, für den Philosophen Jakob Friedrich Fries (1773-1843) war 'das wichtigste Moment in dieser Sache, dass diese Kaste mit Stumpf und Stiel ausgerottet werde'. Richard unverrückbar die Entfernung des Juden überhaupt sein.' Der Vorsatz die Juden zu vernichten, der in Hitlers Denken das Zentrum bildet, war keineswegs singulär, sondern spiegelte die Spezifik des deutschen eliminatorischen Antisemitismus, der nach dem Ersten Weltkrieg das Vakuum politischer wie ideologischer Desorientierung relevanter Bevölkerungsschichten füllte.Radikale Antisemiten gab es unstrittig auch in anderen Ländern wie etwa ein Édouard Drumont (1844-1917) in Frankreich. Im Unterschied zu Westeuropa verankerte sich der eliminatorische Antisemitismus indes in Deutschland in weiten Teilen der Gesellschaft und verfügte in Gestalt namhafter Publizisten, Wissenschaftler und Schriftsteller über eine umfangreiche Trägerschaft. Nahezu endlos ist die Liste der Zitate, die angeführt werden könnten, um den Sachverhalt zu belegen, dass am Ende des 19. Jahrhunderts große Teile der deutschen Zivilgesellschaft vom Vernichtungsantisemitismus erfasst waren und um den Nachweis zu führen, dass dieser gerade in ihrer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Elite weite Verbreitung fand. Gewiss gab es auch in Frankreich einen Kreis entschiedener Judenfeinde, die sich nicht zuletzt bei der Dreyfus-Affäre Gehör verschafften, doch es ist kein Zufall, dass am Ende des Hergangs der jüdische Offizier rehabilitiert wurde, während am Beginn der Weimarer Republik die Ermordung von Rosa Luxemburg und ihre Beschimpfung als 'Judenhure' stand. Einwenden ließe sich, dass in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Antisemitismus in Gestalt zahlreicher Pogrome mit Abstand gewalttätiger war als in Deutschland, sodass die Wahrscheinlichkeit eines antijüdischen Genozids hier viel größer war. Im russischen Zarenreich existierte indes keine starke, etablierte Zivilgesellschaft, während die Judenfeindschaft im wilhelminischen Deutschland in Vereinen, Verbänden, in akademischen Zirkeln sowie in der Mitte der Gesellschaft sowohl in der Breite wie in der Tiefe präsent war.Gleichwohl der 'Weg nach Auschwitz' nicht zwangsläufig war, existierte in Deutschland eine lange, antisemitische Welle, deren Judenfeindschaft sich in ihrer eliminatorischen Radikalität wie in ihrer gesellschaftlichen Verankerung von allen anderen Ländern abhob. Ihre Schärfe setzte bereits mit Martin Luther (1483-1546) und seinem antisemitischen Maßnahmenkatalog ein, der vom Verbrennen jüdischer Synagogen, Gebetsbücher und Talmudschriften über die systematische Beraubung bis hin zum Hinausjagen aus dem Lande reichte; ein bis dato einmaliges, existenzielles Vernichtungsprogramm jüdischen Lebens, das in programmatischer Hinsicht dem Juden einzig und allein noch seine nackte Existenz zu lassen gedachte und den deutschen Protestantismus hochgradig antisemitisch formte. Die Millionen deutschen Täter und Mittäter entstanden nicht 'ex machina', sondern standen bedingt durch das antijüdische Ressentiment, das seit Beginn des 19. ...