Beschreibung
Deutschland nach 1945: Klara und Leon haben überlebt - mit der Geburt ihres Sohnes Bärel wollen sie die Erinnerungen an Lager, Flucht und Verfolgung hinter sich lassen und ein neues Leben beginnen. Doch eine erschütternde Begegnung zwingt Klara, die dunklen Kapitel erneut aufzuschlagen. Eisblumen am Fenster sind der einzige Schmuck bei der Trauung von Klara und Leon Bromberger im Januar 1946. Eine Feier ohne Familie, Klara und Leon sind die einzigen Überlebenden, nur eine goldene Armbanduhr ist als Andenken geblieben. Mit der Geburt ihres Sohnes Bärel - er ist das erste jüdische Kind seit Kriegsende, das in Frankfurt in einem katholischen Krankenhaus geboren wird - soll die Zeit endlich vorwärtslaufen. Doch dann, bei einem Spaziergang im Park, trifft es Klara wie ein Schlag: In einer kleinen, sichtlich schwangeren Frau erkennt sie Liliput, ihre ehemalige Oberaufseherin im KZ. Klara steht unter Schock, hört auf zu sprechen und Bärel zu versorgen. Ihr Mann ist verzweifelt, er sieht nur einen Ausweg: 'Schreibe, Klara, schreibe. Bann das Böse auf Papier! Fessele es mit deinen Worten!' Und Klara wagt den Blick in den Abgrund, zurück ins Leben. Sie schreibt: über das elegante Schuhgeschäft ihres Vaters, die hübsche Pescha, das Ghetto Zamosc und den hastigen Abschied von ihren Eltern, die Flucht, die seltsam blitzenden Augen der alten Piasecki, die verführerisch schöne Hanka und ihre Arbeit im Kasino in Radom, der Höhle des Löwen, über das Lager und Marthas glockenhelles, unvergessliches Ave-Maria - und über die zierliche, eiskalte Oberaufseherin mit der Kinderstimme, die sie Liliput nannten. In 'Es wird wieder Tag' erzählt Minka Pradelski die zutiefst tragische und berührende Geschichte von Klara, verbindet sie mit Bärels ebenso allwissendem wie frechem Säuglingsblick auf die Welt und dem rauen, zupackenden Temperament Leon Brombergers zu einem bewegenden Panorama. Kenntnisreich und mit viel Feingefühl leuchtet Pradelski die Zwischenwelt aus, in der sich ihre Figuren in der Nachkriegszeit befinden: Dem Tod genauso nah wie dem Leben, ringen sie um eine Zukunft. 'Wie meisterhaft Minka Pradelski über dieses Kapitel der Geschichte schreibt, ist große Kunst auf dünnem Eis. Sie kann das, und sie darf das! Ein ganz wunderbares Buch, ich bin mehr als begeistert.' Iris Berben
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Autorenportrait
Minka Pradelski, 1947 als Tochter Überlebender im DP-Camp Zeilsheim geboren, studierte Soziologie in Frankfurt am Main und arbeitete danach als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Clemens de Boor im Sigmund-Freud-Institut an dem Projekt »Nachwirkungen massiver Traumatisierungen bei jüdischen Überlebenden der NS-Zeit«. Darüber hinaus war sie viele Jahre ehrenamtlich für die USC Shoah Foundation tätig. Sie lebt in Frankfurt am Main. Nach ihrem erfolgreichen Roman »Und da kam Frau Kugelmann« folgt mit »Es wird wieder Tag« ein wichtiges Buch über ein Kapitel deutscher Geschichte, dessen Zeitzeugen schwinden.
Leseprobe
An Liliput dachte ich nach langer Zeit wieder, kurz nach Bärels Geburt in einem katholischen Krankenhaus von Frankfurt. Ruckartig wachte ich auf, meinte, sie hätten mich im Entbindungszimmer vergessen. Der schmale Raum war bereits in abendlich blaues Licht getaucht. Ein eisiger Wind blies um das Krankenhaus, zerrte an den Sturmhaken der Doppelfenster. Graue Wolldecken, der Länge nach auf der Fensterbank ausgelegt, schützten das Zimmer nur notdürftig vor der eindringenden Kälte. Jemand öffnete die Türe, knipste das Licht an. Eine Schwesternschülerin trat ein. Außer einer knappen Begrüßung, die sie gleichsam in das Zimmer hineinsprach, schwieg sie. Sie war kaum älter als ich. Das Haar trug sie unter der blauen Haube zu einem blonden Knoten gewickelt, mit gewellten Haarklammern im Nacken festgezurrt. Schwelendes Feuer war unter der Servilität zu spüren, zu der die blaue Haube sie verpflichtete. Wie groß mochte die Freude sein, wenn sie nach Dienstschluss aus der steifen Tracht schlüpfte. Ihre makellose weiße Haut sah aus, als ginge sie nahtlos in das saubere Weiß ihres Kittels über. Aus beiden Ärmeln wuchsen ihre hellblond behaarten Arme heraus und hoben mich wie ein Fliegengewicht auf das fahrbare Krankenbett. Ich zitterte vor Schwäche, verdrossen beneidete ich sie um ihre ausgeschlafene Frische. Krankenschwestern waren wohl nie bettlägerig. Mit dem despektierlichen Blick einer Pflegerin, die kein Leid erschüttert, schob sie mich barsch in die Mitte des Bettes, bis ich kerzengerade lag, deckte mich mit einem ausgebleichten, ehemals längs gestreiften Baumwollbettbezug zu, den sie meine Füße unterfütternd umschlug. Zweifellos hätte sie mich auch angegurtet, wenn sie am Bettgestell einen Riemen vorgefunden hätte. Ihre Hände umklammerten das Kopfteil des Gestells, dessen oberste helle Lackschicht, rissig geworden, graugrün schimmerte. Sie schob mich durch ein Labyrinth von spärlich beleuchteten, nach Tannenzapfen riechenden Korridoren, manövrierte mein Bett geschickt um schmale Ecken. Immer schneller wurde sie, an der grauen Decke flogen die quadratischen Gipskassetten über mich hinweg. Ihr Ehrgeiz bestand darin, das fahrbare Bett in der Mitte des Korridors in Schwung zu bringen und bis zum Krankenzimmer zentriert in Fahrt zu halten, ohne nach rechts oder links auszuweichen. Sie hatte sich wohl ein inneres Punktesystem auferlegt, das sich nur durch ein tägliches Soll erfüllen ließ. Voraussetzung war, dass die Patientin sich ruhig verhielt und nicht etwa kollabierte. Sie vermied es, die Frauen anzusehen, hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, Fragen unbeantwortet zu lassen. 'Nicht so schnell', bat ich die Schwester, die Worte in der Sprache, die mir noch nicht so geläufig war, langsam betonend. Nach einer Weile sagte sie: 'Die Nächste wartet schon.' 'Nicht barfuß in beißender Kälte', erwiderte ich und wusste zugleich, dass sie mir darauf nicht antworten würde. Dabei sehnte ich mich nach gutem Zuspruch, einem aufmunternden Wort. Vor ein paar Stunden hatte ich aufrecht auf zwei Beinen das Krankenhaus in der ruhigen Gewissheit betreten, zu den Gesunden zu gehören. Die Geburt sei ein natürlicher Vorgang, keine Krankheit, dachte ich, aber sie ließ mich geschwächt als bettlägerige Kranke zurück. Fröstelnd zog ich die wärmende Decke wie eine schützende Außenhaut um mich. Ich glaubte, das Bett lange Zeit hüten zu müssen. Erschrocken stellte ich fest, dass ich gerade auf Gedeih und Verderb den schiebenden Händen einer Unbekannten ausgeliefert war, nur an ihrer Haube zu identifizieren, eine Person, die ich nicht kannte, geschweige denn ihre Gedanken. Heftig schaukelnd lag ich in meinem rollenden Bett wie in einem überdimensionalen Kinderwagen. Ein Kind lässt sich im blinden Glauben an ein glückliches Ende der Spazierfahrt schieben, ich aber vertraute niemandem mehr.