Beschreibung
Versammelt werden in diesem Nachlassband Aufsätze, Reden und Radioessays aus Amérys letztem Lebensjahrzehnt. In zweijähriger KZ-Haft hatte er das Urvertrauen in das Menschliche und die Menschlichkeit der Menschen nahezu verloren und erhob aus einer bescheidenen Brüsseler Wohnung seine Stimme. Bei KlettCotta ist auch die Gesamtausgabe von Jean Améry erschienen.
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Autorenportrait
Jean Améry, im Oktober 1912 als Hans Mayer in Wien geboren, zählt zu den bedeutendsten europäischen Intellektuellen der sechziger und siebziger Jahre. Seine bahnbrechenden Essays sind in ihrer Bedeutung vielleicht nur mit den Schriften Hannah Arendts und Theodor W. Adornos zu vergleichen. Als Reflexion über die Existenz im Vernichtungslager stehen sie vermutlich Primo Levis Büchern am nächsten. Zugleich jedoch hat Améry wie kaum ein anderer Intellektueller die deutsche Öffentlichkeit mit französischen Denkern und Schriftstellern bekannt gemacht und konfrontiert. Jean Améry starb im Oktober 1978 durch eigene Hand. Von Irene Heidelberger-Leonard ist bei Klett-Cotta eine Biographie von Jean Améry erschienen. Bei KlettCotta erscheint die neunbändige, reich kommentierte Werkausgabe mit zahlreichen noch nicht veröffentlichten Texten. Damit besteht zum ersten Mal ein Gesamtüberblick über das vielseitige Werk Amérys.
Leseprobe
Jean Améry Weiterleben aber wie? In Träumen gibt es manchmal so etwas: Man befindet sich in einem fremden Land. Die Sprache der Bewohner ist ebenso unverständlich wie ihre Sitten. Wie immer man es anstellt, es geht schlecht aus. Jedes gesprochene Wort, jegliche getane Handlung löst unerwartete, unbegreifliche und darum gefährliche Reaktionen aus. Man fühlt dumpf und unter Stöhnen, daß man so unmöglich weiterleben kann - und erwacht. Es war ein Albtraum, gottseidank. Wir sind nicht aus solchem Stoff wie dem zu Träumen. Es verlangt uns nach Wachheit und einer Sicherhheit, die wenig zu schaffen hat mit spießbürgerlicher Sekurität. Das Wachsein ist nur die Voraussetzung eines sich Sicherfühlens, welches seinerseits reduziert werden kann auf das Bewußtsein, daß es uns möglich ist, Voraussagen zu treffen. Die Zukunft, eigentliche Dimension des Humanen, muß erschaubar sein, und sei es auch nur in vagen Konturen, wenn wir bestehen wollen: annähernde Gewißheit der Voraussage ist das absolut prioritäre Erfordernis unserer Existenz im Alltag und ist der Sinn einer jeden wissenschaftlichen Erkenntnis. Die Frage 'Weiterleben - aber wie?' ist darum keine von dieser Epoche uns gestellte. Sie ist die Grundfrage unseres Daseins; und das Orakel ist archetypisches Symbol. Wenn nun freilich das Verlangen nach dem Blick ins dämmrig-verhängte Zukunftsland auch nicht spezifische Sache unserer Zeit ist, so kann man doch nicht leugnen, daß es heute sowohl dringlicher sich einstellt als auch legitimer auftritt denn je zuvor. Was längst nur noch Binsenwahrheit ist, muß gleichwohl ausgesprochen werden [.]