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Die geprügelte Generation

Kochlöffel, Rohrstock und die Folgen

Erschienen am 10.02.2012
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783608946802
Sprache: Deutsch
Umfang: 284 S.
Format (T/L/B): 3 x 21 x 13.5 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Erst nachdem bekannt wurde, dass in Heimen und Privatschulen Misshandlungen an der Tagesordnung waren, dass Geistliche Kinder mit Stöcken schlugen - erst seitdem wird offen über die damals an Kindern verübte alltägliche Gewalt geredet. Fragen nach dem WARUM kommen auf: War es der Zeitgeist, der zu Watschn und einer Tracht Prügel verleitete? Hing es damit zusammen, dass die Väter traumatisiert aus dem Krieg zurückkehrten? Geschah dies alles in einer unsäglich brutalen Erziehungstradition? Mit einem Blick auf Gegenwart und Vergangenheit beschreibt dieses Buch, wie sich der Vertrauensbruch der Eltern auf die Biografie der Kinder ausgewirkt hat. Wie die demütigenden Schläge die Gefühle, den Alltag und die Beziehungen einer ganzen Generation bis heute beeinflussen. Und ob die einst geprügelten Kinder als spätere Erwachsene diesen Eltern verziehen oder mit ihnen brachen.

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Autorenportrait

Ingrid Müller-Münch, Journalistin und Autorin. Sie war Korrespondentin der Nachrichtenagentur 'Reuters' und der 'Frankfurter Rundschau', Redakteurin beim 'Stern' und arbeitet heute hauptsächlich für den 'Westdeutschen Rundfunk'. Sie lebt in Köln.

Leseprobe

1. Kapitel KOMM DU MIR BLOSS NACH HAUSE Bauklötze aus Brikett Sonja war fünf Jahre alt und spielte mit einer Freundin in der Garage ihrer Eltern. Zu der Zeit wurde noch hauptsächlich mit Kohle geheizt. Und so waren dort Briketts für den Winter gestapelt, zum Entzücken der beiden Mädchen. Die packten sie sich, diese schwarzen, rechteckigen Klötze, ohne Rücksicht auf ihre sauberen Anziehsachen, stapelten sie gekonnt und bauten aus ihnen eine Sitzgarnitur. Mit Tischen und Stühlen, mit allem, was dazu gehört. Stolz betrachteten beide anschließend ihr Werk, kletterten daran rauf und runter, ohne sich groß darum zu scheren, dass sie sich dabei immer mehr mit den Briketts einstaubten und dreckig machten. 'Das war Anfang der 50er Jahre. Meine Mutter hatte keine Waschmaschine und musste für uns drei Kinder zu Hause mit der Hand waschen', erinnert sich Sonja. Dementsprechend aufgebracht war die Mutter, als sie die verschmierte Kleidung der Tochter sah - und schlug zu. 'Das war das erste Mal, dass sie den Rohrstock rausgeholt hat.' Sonja zögert. 'Vielleicht war es ja auch vorher schon.' Nur an dieses Mal erinnert sich Sonja noch ganz genau. Für den Berliner Erziehungswissenschaftler Ulf Preuss-Lausitz eine in der damaligen Zeit normale und auch gesellschaftlich anerkannte Reaktion. 'Es war durchaus klar, dass man das hinnehmen musste, wenn es passierte. Körperliche Strafen, die b e rühmte Ohrfeige oder auch mal das an den Ohren ziehen - solche Sachen waren üblich in den 50er und 60er Jahren und dementsprechend allgemein akzeptiert. In den Medien, überhaupt in der Öffentlichkeit, ja auch in den Gesprächen der Erwachsenen untereinander galten Schläge als erzieherisch wirksames Mittel.' Sonja bekam das zu spüren. 'Über meine Eltern wurde gelegentlich gesagt, sie seien sehr streng. Ich nde, das ist untertrieben, sie waren brutal. Sie hatten ein brutales Erziehungs-Straf system. Das war gestaffelt, je nach Vergehen. Und kleinere Vergehen konnten sich addieren. Bis dann der Rohrstock kam.' Sonja hatte häug den Eindruck, ihre Eltern hätten sich 'regelrecht entlastet', wenn sie die Tochter oder die Söhne verhauten. Danach schien es Vater und Mutter richtig gut zu gehen. Sie wirkten, als hätten sie Luft abgelassen. Dabei behaupteten die Eltern stets, die Kinder müssten nach einer solchen Tracht Prügel erleichtert sein, sich geradezu befreit fühlen, weil sie ihre Schandtat endlich gesühnt hätten. 'Tatsache war, die Eltern fühlten sich besser, weil sie ihren Frust rausgeprügelt hatten. Auf uns.' Auf Sonja und ihre zwei Brüder. 'Meine Eltern waren Proteure des Nazi-Regimes gewesen'. Diese Bemerkung macht Sonja ziemlich zu Anfang unseres Gespräches. Es ist ihr wichtig, einen Zusammenhang zwischen dem Zerplatzen der Träume ihrer Eltern von einem 'Großdeutschen Reich', verbunden mit einem damit einhergehenden von ihnen offenbar erwarteten Wohlstand und den so schmerzhaften späteren Sanktionsritualen in ihrer Familie herzustellen. Jedenfalls wirkten diese Eltern auf die kleine Sonja enttäuscht, gekränkt, ja geradezu wütend. Und sie ließen ihre Wut an den Kindern aus. So kam es Sonja jedenfalls vor. Wenn ihre Brüder zum Beispiel etwas angestellt hatten, wenn sie - was nicht selten passierte - mit schlechten Zeugnissen nach Hause kamen, dann mussten sie sich der Reihe nach im Wohnzimmer aufstellen. In diesem großen, repräsentativen Wohnzimmer, in dem Gäste mit Salzstangen und Moselwein bewirtet wurden. Und dann schlug der Vater zu, während die Mutter dabei saß, 'mit einem kleinen Cognac, einer Zigarette, und sich das ansah.' Das Trotzköpfchen soll sich beruhigen Sonja kommt aus einer bürgerlich protestantischen Familie. Ihr Vater war das, was man heute einen Manager nennen würde. Zunächst war ihre Familie 'nachkriegsverarmt', so wie die meisten Deutschen der damaligen Zeit. Bald schon machte sich allerdings das beginnende Wirtschaftswunder bemerkbar. Anfang der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts - da war die 1947 geborene Sonja noch nicht eingeschult - wurde ein erstes Auto angeschafft. Dem folgte ein eigenes Haus. Es ging mit strammem Kurs aufwärts. Bald waren 'wir eine richtig gut situierte Familie'. Doch der Wohlstand änderte nichts daran, dass zu Hause eine eisige, kinderfeindliche Atmosphäre herrschte. Inzwischen ist Sonja über 60 Jahre alt, verheiratet, kinderlos, liebt ihren kreativen Beruf als Grakerin. Sie wirkt bei unseren Gesprächen in sich ruhend, zufrieden mit ihrem jetzigen Leben, aber auch wie jemand, der verwundet wurde, dadurch leicht verletzbar geworden ist. Das Thema Kindheit, Schläge, Eltern ist ihr spürbar unangenehm. Doch Sonja ist kein Weichei, das wurde ihr von den Eltern ausgeprügelt. Sie ist es gewohnt, sich Herausforderungen zu stellen, tat das schon immer. Wie diesmal dem Interview mit mir, das sie belastet. Ich merke es ihr an. Sie weicht aber dennoch nicht aus. So kann sie mir noch nach all den Jahrzehnten genau beschreiben, wie so ein Rohrstock eigentlich aussah: 'Er ist mehr als einen halben Meter lang, dünn, aus Rohr oder Bambus.' Gespürt hat sie ihn während ihrer ganzen Kindheit. Wieder und wieder. Die Eltern teilten sich die Schläge auf: 'Die Mutter schlug mich, der Vater meine Brüder.' Einmal im Monat 'war das bei mir dran.' Vielleicht mehr oder weniger häug, überlegt sie, aber seltener sicher nicht. 'So dass ich ständig mit dieser Bedrohung lebte.' Das Ritual der Misshandlung spielte sich immer gleich ab. Die Mutter sagte, wenn etwas schief gegangen war: 'Du weißt ja, was jetzt passiert. Hol schon mal den Rohrstock.' Der lag stets griffbereit so weit oben auf einem Schrank im Esszimmer, dass die kleine Sonja ihn gerade mal zu fassen bekam. Sie reckte sich, hol te ihn. Dann musste sie vorgehen, die Treppe runter in die Waschküche. 'Dort wurde ich verprügelt. Röckchen hoch. Also nicht gerade auf den nackten Po. Aber auf die Unterhose.' Sonja erinnert sich gut an die Brutalität, die bei ihr zu Hause herrschte. Und die sich von den Eltern auch auf ihre Brüder übertragen hatte. Sie als jüngstes der Geschwister musste, bis sie elf oder zwölf Jahre alt war, 'ständig damit rechnen, dass jeder, der mir in diesem Haus begegnete, das Recht hatte, mir eine Ohrfeige zu geben. Jederzeit.' Eigentlich zog sie damals Schläge mit dem Rohrstock diesen spontanen Übergriffen vor, denn die gezielten Stockschläge bedurften einer gewissen Vorbereitung, dazu ging man in den Keller, 'das war irgendwie kalkulierbarer'. Doch Ohrfeigen gab es einfach zwischendurch, wann immer es den anderen passte. Und wann immer sie die Brüder streifte, ihnen auf dem Flur, im Haus begegnete, wurde sie geknufft, geschlagen, an den Haaren gezogen. Der gewalttätige Umgang mit ihr gab Sonja das Gefühl, in ihrer Familie eine Außenseiterin zu sein. Jemand, der nicht richtig dazu gehörte, der einfach von Natur aus böse war, dem man das Schlechte durch Prügelei austreiben musste. Dabei hatte sie eine Freundin, der es ähnlich schlimm erging, auch wenn deren Eltern nie handgreiich wurden. 'Aber die musste, schon als sie noch sehr klein war, in den Kohlenkeller gehen und wurde dort eingesperrt. In den dunklen Keller. Bis das Trotzköpfchen wieder ruhig war.' Glück gehabt Eigentlich hatte ich mich an Professor Ulf Preuss-Lausitz gewandt, weil er an der Berliner TU Hochschullehrer für Erziehungswissenschaft war, mit dem Schwerpunkt 'Entwicklung von Kindern'. Er sollte mir als Experte helfen, die Schilderungen meiner Interviewpartner zeitgeschichtlich einzuordnen. Doch dann kam auch er zunächst auf seine Kindheit zu sprechen. Darauf, dass es bei ihm zu Hause Schläge nur als Androhung gab, die aber nie in die Tat umgesetzt wurde. Er kannte Prügel nur aus Andeutungen, die andere Kinder in der Schule machten. Aber an äußeren Merkmalen, am Verhalten seiner Schulkameraden erkannte PreussLausitz als Jugendlicher sehr genau, in welchen Familien Gewalt zur Tagesordnung gehörte: 'Das sah man diesen Kindern an, sie wirkten meistens relativ verschüc... Leseprobe

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Als das Prügeln von Kindern noch normal war