Beschreibung
'Alle Archive der Welt wären nicht genug, solange er nicht wüsste, nach wem oder was und wo er suchen sollte.' David ist Museums-Kurator. Seit seiner Kindheit sammelt er Gegenstände, um die Vergangenheit festzuhalten. Doch von einem Tag auf den anderen bricht sein geregeltes Leben zusammen. Er muss erfahren, dass er nicht der Sohn seiner Eltern ist. An seiner verzweifelten, jahrelangen Suche nach der wirklichen Mutter zerbricht fast die Ehe mit Eleanor, seiner von Depressionen gebeutelten Frau. Nichts lässt sich unbeschadet über die Zeit retten. Mit einem unverwechselbaren Sound erzählt der Roman Davids Lebensgeschichte vom Kriegsende bis in die Gegenwart. Ein bewegender Roman über die Liebe und die unendlichen Möglichkeiten, jeden Tag - so oder so - neu zu beginnen.
Autorenportrait
Jon McGregor wurde 1976 in Bermuda (UK) geboren. Er debütierte 2001 mit dem von der Kritik und dem Publikum gefeierten Roman »If Nobody Speaks of Remarkable Things« (»Nach dem Regen«) und gewann dafür zahlreiche Preise. Auch mit seinem zweiten Roman gelangte er auf die Booker Prize Longlist. Von den Lesern der »Times« und des »Guardian« wurde er unter die besten Neuerscheinungen des Jahres 2006 gewählt. Er lebt mit seiner Familie in Nottingham.
Leseprobe
Sie kamen früh am Morgen, liefen mit den anderen über Bahnschwellen und Feldwege und Landstraßen und Äcker, langgestreckte, flache Anhöhen hinab zum träge dahinfließenden Fluß, hinunter zu den offenen Toren der Stadtmauern. Als die Nacht in ihrem Rücken der Dämmerung wich, ließen die schwerfälligen Bewegungen der Körper erkennen, daß sie schon seit vielen Stunden oder gar Tagen unterwegs waren, über ihnen hing der Atem als Dampf in der kalten Morgenluft. Sie kamen fast lautlos, das Wischen taunassen Grases an den Knöcheln, das Schmatzen und Platschen des schlammigen Bodens unter den Füßen, das Husten und Murmeln erster Gespräche, als ein paar Sätze ihren Weg durch die Reihen machten. Da wären wir. Sind fast da. Nur noch den Hügel hinunter, und dann setzen wir uns hin. Zigaretten wurden angezündet, hunderte von Zigaretten, schmale, ledrige Finger rollten gekonnt eine Prise Tabak in ein Papierblättchen, ohne dabei aus dem Tritt zu geraten. Zigaretten wurden geschnorrt, angeboten, geteilt, an nervöse junge Hände weitergereicht, die begierig auf den ersten beißenden Geschmack des Erwachsenseins warteten; die Jungen schützten die Zigarette mit ihren Händen vor dem Wind, wie sie es bei ihren Vätern und Onkeln und älteren Brüdern abgeguckt hatten, husteten, als der Rauch in ihren unverbrauchten Lungen brannte, sich nach oben kräuselte und mit den kalten Atemwolken vermischte, während sie zwischen blühenden Weißdornhecken und Böschungen voller Himmelschlüssel hindurchgingen, hinunter, in Richtung der Stadtmauer. Alle trugen sie Anzüge oder etwas, das dem ähnelte: wollene Westen und ordentlich geknotete Halstücher, dicke Tweedjacken mit abgeschabten Ellbogen und Manschetten, Englischlederhosen mit ausgefransten Säumen, die in die Stiefel gesteckt waren. Die Jüngeren hatten Kleiderbündel dabei, in braunes Packpapier verpackt und mit Bindfaden zusammengeschnürt, über die Schulter geworfen oder mit feuchten Händen an die Brust gedrückt; allmählich beschleunigten sie ihr Tempo, wurden den Berg hinab gezogen vom Anblick der Stadt, von der Begierde, als erste da zu sein, von der Ungeduld der von hinten nachdrängenden Männer und Jungen, noch benommen vom Schlaf, mit vom langen Marsch schmerzenden Gliedern, doch alles war vergessen, als sie sich dem Ziel ihrer Reise näherten. Von der Kuppe des Hügels, wo andere erst jetzt den letzten langen Abstieg begannen, sah die Stadt still und reglos aus; sie war vom blassen Nebel eines Maimorgens verhüllt und verströmte dasselbe Versprechen wie jede aus der Ferne betrachtete Stadt, dieselbe magnetische Anziehungskraft aus Hoffnungen und Möglichkeiten. Als die ersten Männer und Jungen in die Stadt kamen und ihre dröhnenden Stiefel über das Kopfsteinpflaster stampften, wurden die Fenster gerade aufgemacht und die Vorhänge zurückgezogen, und langsam erwachte die Stadt. Verschlafene Kinder spähten aus kleinen Fenstern in den Obergeschossen, das gedämpfte Gemurmel und Gepolter verkündete den Beginn des Tages, den sie so sehnlich erwartet hatten; sie riefen zu den Kindern in den Häusern auf der anderen Straßenseite hinüber und schnitten ihnen Fratzen. Gastwirte öffneten die Türen und Rolläden ihrer Kneipen, fegten den Boden und standen mit dem Besen in der Hand in der Tür und sahen den ersten Gästen entgegen. Budenbesitzer bereiteten die Eröffnung ihrer Stände rund um den Marktplatz vor und behielten den Trupp Polizisten im Auge, der vor dem neuen Rathaus stand. Und von allen Ecken des langgestreckten Platzes, von der Straße, die von der Brücke im Osten hereinführte, vom Torbogen am Pförtnerhaus im Westen, von der Straße, die sich im Süden am Fluß entlang schlängelte, tauchte die Armee der Arbeiter auf, wurden die Ankömmlinge vor Aufregung immer schneller, riefen Freunden, die sie in den letzten sechs Monaten nicht gesehen hatten, einen Gruß zu, sahen sich nach anderen um, erkundigten sich nach dem Befinden der Kinder und Frauen. Und das Gedränge der Menschen