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Kritik der Polizei

Erschienen am 06.12.2018, 1. Auflage 2018
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593509440
Sprache: Deutsch
Umfang: 346 S.
Format (T/L/B): 2.2 x 21.5 x 14 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Die Polizei ist für manche Menschen 'Freund und Helfer', andere erleben sie im täglichen Leben als Institution, die unterdrückt, vertreibt oder schikaniert. Im Zuge wachsender gesellschaftlicher Spannungen wird dieser Aspekt immer offensichtlicher. Insbesondere die US-amerikanische Black-Lives-Matter-Bewegung hat das Thema Polizeigewalt auf die Tagesordnung gehoben. Aber auch in der Bundesrepublik Deutschland scheint die Polizei in eine grundlegende Krise geraten zu sein. Dieser Band versammelt erstmals wichtige Texte zur Polizeikritik von deutschen und internationalen Intellektuellen, Aktivistinnen und Aktivisten. Mit Beiträgen unter anderem von Giorgio Agamben, Rafael Behr, Kendra Briken, Didier Fassin, Sally Hadden und Vanessa Thompson

Autorenportrait

Daniel Loick ist Philosoph und Sozialtheoretiker an der Universität Frankfurt am Main. Zuletzt erschienen von ihm unter anderem "Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts" (2017), "Anarchismus zur Einführung" (2016) und "Kritik der Souveränität" (2012).

Leseprobe

Was ist Polizeikritik? Daniel Loick Ende Dezember 2014 organisierte die New Yorker Polizeigewerkschaft einen Bummelstreik. Aus Protest gegen den neugewählten Bürgermeister Bill de Blasio, von dem sie sich zu wenig unterstützt fühlten, weigerten sich die Polizist*innen, Verkehrsdelikte und andere geringfügige Straftaten zu ahnden und beschränkten ihre Aktivitäten auf ein absolutes Minimum. Der Streik reduzierte die Anzahl von Straßenkontrollen, Strafmandaten und Verhaftungen um über 90 Prozent. Doch statt Chaos und Verbrechen hervorzurufen, hatte er den gegenteiligen Effekt: Weder kam es zu einer Zunahme von Kriminalität noch zu einer Abnahme des Sicherheitsgefühls bei den Menschen. Die Abwesenheit der Polizei wurde vielmehr von vielen als Befreiung empfunden (Yee 2015). In einem Kommentar für die Zeitschrift The New Republic beschreibt der Schriftsteller Aurin Squire die Auswirkungen des slowdowns auf die schwarze Bevölkerung: "Die letzten beiden Wochen waren wie ein Urlaub von Angst, Überwachung und Strafe. Vielleicht fühlt es sich so an, nicht die ganze Zeit vorverurteilt und als verdächtige Kriminelle angesehen zu werden. Vielleicht ist das ein wenig so, wie es sich anfühlt, weiß zu sein." (Squire 2015) Wie man über die Polizei denkt, hat damit zu tun, welche Erfahrungen man mit ihr gemacht hat. Das wiederum hängt mit der jeweiligen sozialen Position zusammen. Die meisten Menschen kommen selten in Kontakt mit der Polizei, und wenn, dann haben sie sie in der Regel selbst gerufen - etwa wegen einer Ruhestörung oder einer gestohlenen Geldbörse. Sogar wenn man wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung angehalten wird oder ein Knöllchen bekommt, flucht man gern mal über die Wachtmeisterin, kaum aber jemand würde die Notwendigkeit der Institution infrage stellen. Im Gegenteil: Die Polizei erscheint als wichtiger Ansprechpartner für die Regelung sozialer Konflikte und die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung, als "Freund und Helfer" eben. Die Mehrheit der Menschen kann sich mit der polizeilichen Perspektive identifizieren, denn sie kann sich in der Welt, die die Polizei schützt, zu Hause fühlen. Diese Mehrheitsperspektive dominiert auch die öffentliche Diskussion: Für die Lösung gesellschaftlicher Problemlagen wird regelmäßig mehr Polizei gefordert, sei es in Fällen von Drogenkonsum, Jugendkriminalität oder zur Befriedung rivalisierender Fußball-Fangruppen. Aurin Squires Bericht erinnert jedoch daran, dass es auch eine Minderheitenperspektive gibt - die Perspektive von Menschen, die regelmäßig und ganz andere Erfahrungen mit der Polizei machen. Für viele Menschen of color gehören Polizeikontakte zum alltäglichen Leben: Sie werden viel häufiger als Weiße angehalten und kontrolliert und auch häufiger durch die Polizei beleidigt oder schikaniert. Auch andere Gruppen erleben polizeiliche Interaktionen nicht als schützend, sondern bestenfalls als lästig, schlimmstenfalls als Gefahr für Leib und Leben: Arme Menschen, Wohnungslose und Drogennutzer*innen, die aus den Innenstädten vertrieben werden, Sexarbeiter*innen, die täglich mit Razzien rechnen müssen, oder Geflüchtete mit zum Teil prekärem Aufenthaltsstatus, für die ein Kontakt mit der Polizei stets das Risiko einer Abschiebung mit sich bringt. Die Angehörigen dieser Gruppen können sich mit der polizeilichen Perspektive nicht identifizieren: Die Sicherheit und Ordnung, welche die Polizei garantiert, ist nicht die ihrige - sie selbst erscheinen dieser Ordnung als Probleme, Störenfriede oder Eindringlinge. Die Perspektiven dieser Menschen, obwohl alltäglich und weit verbreitet, verbleiben zumeist unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung; in Talkshows oder Zeitungen kommen sie selten zu Wort. Die differentielle Operationslogik der Polizei zu erkennen, erschüttert somit das vorherrschende Bild von der Polizei als "Freund und Helfer" - sie ist eben Freund und Helfer nur einiger Menschen, aber Feind und Ärgernis anderer. Es ist der in den USA entstandenen Black-Lives-Matter-Bewegung zu verdanken, dass dieses Erfahrungswissen marginalisierter Gruppen Eingang in den öffentlichen Diskurs gefunden hat und das Thema Polizei überhaupt auf die Tagesordnung der politischen Debatte gesetzt wurde. Die Namen einiger schwarzer Menschen sind zu Symbolen rassistischer Polizeibrutalität geworden: Sandra Bland, Mike Brown, Eric Garner, Freddie Gray, Aiyana Jones, Tamir Rice, Alton Sterling und unzählige andere. Wenngleich in (quantitativ) geringerem Ausmaß, gibt es auch in Europa zahlreiche Fälle, in denen rassistisches Polizeihandeln den Tod von Menschen of color zur Folge hatte, wie etwa bei Adama Traoré in Paris, der 2016 nach seiner gewaltsamen Festnahme in Polizeigewahrsam ums Leben kam, oder Oury Jalloh, der 2005 in einer Polizeizelle in Dessau verbrannte. In jedem dieser Fälle gingen die beteiligten Polizist*innen straffrei aus. Aber Tötungen sind nur die extremsten Beispiele alltäglicher Diskriminierungen, die sich bereits bei weitaus weniger spektakulären Begegnungen geltend machen. Die differentielle Adressierung der Bevölkerung durch die Polizei wird schon daran deutlich, wer im Zug nach dem Ausweis gefragt oder im Bahnhof an die Wand gestellt wird, wessen Taschen kontrolliert werden und wer im Zweifelsfall mit auf die Wache kommen muss, wer geduzt und wer gesiezt wird. Die Black-Lives-Matter-Bewegung und ähnliche soziale Bewegungen in Europa nehmen ihren Ausgangspunkt von dieser Diskriminierungserfahrung; von der Erfahrung also, dass in unseren Gesellschaften einige Leben weniger zählen als andere. Die gesellschaftstheoretische Analyse und die politische Kritik der Polizei können sich von dieser Erkenntnis ihrer differentiellen Funktionsweise leiten lassen. Von der marginalisierten Perspektive ausgehend, lässt sich nicht nur erschließen, was die Polizei schon jetzt tut, sondern auch, was sie möglicherweise tun wird. Die Polizei versucht naturgemäß, ihre Kompetenzen zu erweitern und rechtliche Einschränkungen loszuwerden. Potenziell sind darum auch die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft von ähnlichen Repressionen betroffen, unter denen viele Minderheiten schon jetzt leiden. Das wird zum einen bei Ausnahmesituationen wie den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg 2017 offensichtlich. Dort kamen rechtliche, technische, architektonische und diskursive Strategien zum Einsatz, die an den sogenannten "Gefahrengebieten" oder "gefährlichen Orten", in den Rotlicht- oder Drogenszenen, in Flüchtlingsunterkünften und Aufnahmeeinrichtungen bereits erprobt wurden. Zum anderen fließen diese Techniken auch in die regelmäßigen Gesetzesverschärfungen im Bund und in die Novellierungen der Landespolizeigesetze ein: Anlasslose Durchsuchungen, Überwachung der Kommunikation, Vorratsdatenspeicherung, Rasterfahndung, Videoüberwachung, verdachtsunabhängige Festnahmen und langfristige oder sogar unbefristete Inhaftierungen ohne richterlichen Beschluss, wie sie etwa das 2018 geänderte bayerische Polizeiaufgabengesetz erlaubt. Geschichte der Polizei Um eine Sache zu kritisieren, ist es wichtig, ihre Geschichte zu kennen: So lässt sich sowohl ihre Relativität als auch ihre Kontinuität verstehen. Die historische Relativität der Polizei beweist, dass sie keine naturgegebene oder unveränderbare Institution ist: Da es sie nicht immer gegeben hat, muss es sie nicht für alle Zukunft geben. Die historische Kontinuität hingegen hilft, grundsätzliche Funktionsweisen zu identifizieren - Charakteristika, die das Wesen der Polizei als solcher ausmachen. Die Polizei, wie wir sie kennen - als eine Institution von bezahlten Beamten, die mit der Aufgabe der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols und der Bekämpfung von Kriminalität betraut ist -, ist eine historisch relativ junge Erscheinung. Sie entstand in Europa und den USA innerhalb der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Älter ist die Geschichte des Begriffs der Polizei, der zuvor einen viel umfassenderen Sinn hatte. In seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernemental...

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