Beschreibung
Was kommt nach dem Menschen? In Donna Haraways Büchern wimmelt es von Cyborgs, Primaten, Hunden und Tauben. Die Grenze zwischen Mensch und Maschine sowie zwischen Mensch und Tier verschwimmt. In ihrem neuen großen Buch ruft die feministische Theoretikerin das Zeitalter des Chthuluzän aus, das eben nicht - wie im Anthropozän - den Menschen ins Zentrum des Denkens und der Geschichte stellt, sondern das Leben anderer Arten und Kreaturen, seien es Oktopusse, Korallen oder Spinnen. Und nicht nur das: Es sollen neue Beziehungen entstehen, quer zu Vorstellungen biologischer Verwandtschaft. Im Zuge dessen setzt sich Haraway auch mit dem Klimawandel auseinander. Einmal mehr erweist sie sich als eine originelle und radikale Denkerin der Gegenwart.
Autorenportrait
Donna J. Haraway ist emeritierte Professorin an der University of California, Santa Cruz. Sie ist Wissenschaftstheoretikerin, Biologin und Geschlechterforscherin. Im Campus Verlag erschien von ihr 'Die Neuerfindung der Natur' (1995) und 'Unruhig bleiben' (2018).
Leseprobe
Einleitung Trouble ist ein interessantes Wort. Es lässt sich auf ein französisches Verb aus dem 13. Jahrhundert zurückführen, das "aufwirbeln", "wolkig machen" oder "stören" bedeutet. Wir alle auf Terra leben in unruhigen Zeiten, in aufgewirbelten Zeiten, in trüben und verstörenden Zeiten. Die Aufgabe besteht nun darin, reagieren zu können, und zwar gemeinsam und in unserer je unbescheidenen Art. Aufgewirbelte Zeiten quellen über vor Schmerz und Freude, vor sehr ungerechten Mustern von Schmerz und Freude, vor sinnlosem Abtöten des Weiterbestehens (ongoingness), aber auch vor unerlässlicher Wiederbelebung. Die Aufgabe besteht darin, sich entlang erfinderischer Verbindungslinien verwandt zu machen und eine Praxis des Lernens zu entwickeln, die es uns ermöglicht, in einer dichten Gegenwart und miteinander gut zu leben und zu sterben. Es ist unsere Aufgabe, Unruhe zu stiften, zu wirkungsvollen Reaktionen auf zerstörerische Ereignisse aufzurütteln, aber auch die aufgewühlten Gewässer zu beruhigen, ruhige Orte wieder aufzubauen. In dringlichen Zeiten ist es für viele verlockend, der Unruhe zu begegnen, indem sie eine imaginierte Zukunft in Sicherheit bringen. Dafür versuchen sie, am Zukunftshorizont Drohendes zu verhindern, aber auch Gegenwart und Vergangenheit beiseite zu räumen, um so für kommende Generationen Zukunft zu ermöglichen. Unruhig zu bleiben erfordert aber gerade nicht eine Beziehung zu jenen Zeiten, die wir Zukunft nennen. Vielmehr erfordert es zu lernen, wirklich gegenwärtig zu sein. Gegenwärtigkeit meint hier nicht einen flüchtigen Punkt zwischen schrecklichen oder paradiesischen Vergangenheiten und apokalyptischen oder erlösenden Zukünften, sondern die Verflechtung von uns sterblichen Krittern mit unzähligen unfertigen Konfigurationen aus Orten, Zeiten, Materien, Bedeutungen. Chthuluzän ist ein einfaches Wort. Es verbindet zwei griechische Wurzeln (khthôn und kainos) miteinander, die zusammen eine Art Zeitort benennen; einen Zeitort des Lernens, um die Idee eines responsablen (response-able) gemeinsamen Lebens und Sterbens auf einer beschädigten Erde nicht aufzugeben. Kainos heißt jetzt, eine Zeit des Anfangens, eine Zeit des Weitermachens, eine Zeit für Frische. Nichts in kainos muss gängige Auffassungen von Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünften bestätigen. Zeiten des Anfangens implizieren nicht, dass das, was war oder was kommen wird, ausgelöscht werden müsste. Kainos kann voller Erbschaften sein, voller Erinnerungen, aber auch voll mit Kommendem, mit der Förderung dessen, was noch sein könnte. Ich höre kainos als dichte und andauernde Gegenwart, mit Zellfäden durchzogen, die alle möglichen Zeitlichkeiten und Stofflichkeiten durchdringen. Die Chthonischen sind Wesen der Erde, gleichzeitig alt und aktuell. Ich stelle mir die Chthonischen als reichlich mit Tentakeln, Fühlern, Fingern, Fäden, Geißeln, Spinnenbeinen und unbändigem Haar versehen vor. Die Chthonischen tummeln sich im Humus multipler Kritter, aber mit dem in den Himmel starrenden Homo wollen sie nichts zu tun haben. Die Chthonischen sind Monster im besten Sinn: Sie führen die materielle Bedeutungsfülle irdischer Prozesse und Kritter vor und auf. Sie führen auch Konsequenzen vor und auf. Die Chthonischen sind keine sichere Bank; sie haben mit IdeologInnen nichts zu schaffen; sie gehören zu niemandem; sie winden sich und luxurieren in vielfältigen Formen und tragen in all den Lüften, Wassern und Orten dieser Erde ebenso vielfältige Namen. Sie stellen her und lösen auf; sie werden hergestellt und aufgelöst. Sie sind, was existiert. Kein Wunder, dass die weltgrößten Monotheismen, sowohl in religiösem als auch in säkularem Gewand, die Chthonischen immer wieder vernichten wollten. Die Skandale jener Zeiten, die Anthropozän und Kapitalozän genannt werden, sind die jüngsten und gefährlichsten dieser Vernichtungskräfte. Miteinander zu leben und miteinander zu sterben haben im Chthuluzän das Potenzial einer Kampfansage an die Diktate des Anthropos und des Kapitals. Kin (Verwandtschaft, Sippschaft) ist eine wilde Kategorie, die viele verschiedene Leute zu zähmen versuchen. Sich auf eigensinnige Art verwandt zu machen anstatt, oder zumindest zusätzlich, mit der göttlichen, genealogischen und biogenetischen Familie, rührt wichtige Dinge auf; zum Beispiel die Frage, wem gegenüber man eigentlich verantwortlich ist. Wer lebt und wer stirbt und auf welche Art und Weise in dieser Verwandtschaft und nicht in jener? Welche Gestalt hat diese Sippe, welche Orte und welche Kritter verbinden und trennen die Verwandtschaftslinien, und warum das Ganze? Was muss durchschnitten und was muss verknüpft werden, damit artenübergreifendes Gedeihen auf dieser Erde eine Chance hat; ein Gedeihen, das menschliche und anders-als-menschliche Wesen in die Verwandtschaft miteinschließt? Eine allgegenwärtige Figur dieses Buches ist SF: Science-Fiction, spekulative Fabulation, Spiele mit Fadenfiguren (string figures), spekulativer Feminismus, science fact (wissenschaftliche Fakten), so far (bis jetzt). Diese Liste wirbelt und schlängelt sich immer wieder durch die kommenden Seiten; in Worten, aber auch in Bildern, die mich und meine LeserInnen in Wesen und Muster verflechten, die auf dem Spiel stehen. Wissenschaftliche Fakten und spekulative Fabulation brauchen einander und beide brauchen einen spekulativen Feminismus. SF und Fadenspiele denke ich im dreifachen Sinn als Figurationen. Erstens zupfe ich großzügig Fasern aus verklumpten und dichten Ereignissen und Praktiken heraus. Ich versuche, den Fäden zu folgen und die Spuren so zu lesen, dass ihre Verwicklungen und Muster entscheidend dafür werden, wie wir an wirklichen und spezifischen Orten, in wirklichen und spezifischen Zeiten unruhig bleiben können. So verstanden ist SF eine Methode des Nachzeichnens, des Verfolgens eines Fadens in die Dunkelheit, in eine gefährlich wahre Abenteuergeschichte hinein, in der vielleicht klarer wird, wer für die Kultivierung artenübergreifender Gerechtigkeit lebt oder stirbt und warum. Zweitens ist SF nicht nur die Methode des Nachverfolgens, sondern das Ding an sich: jenes Muster und jene Versammlung, die eine Antwort verlangen; das Ding, das man selbst nicht ist, aber mit dem man weitermachen muss. Drittens bedeutet SF weitergeben und entgegennehmen, herstellen und aufheben, Fäden aufnehmen und fallen lassen. SF ist eine Praxis und ein Prozess, ein Werden-mit-anderen in überraschender Aufeinanderfolge, eine Figur des Fortdauerns im Chthuluzän. Das Buch und das Konzept des Unruhig-Bleibens sind unvereinbar mit zwei häufigen Reaktionen auf die Schrecken von Anthropozän und Kapitalozän. Die eine Reaktion ist einfach zu beschreiben und, so glaube ich, ebenso einfach zu verwerfen, nämlich der geradezu lächerliche Glaube an technische Lösungen, ob nun säkularer oder religiöser Art: Eine Technik wird auftauchen, um ihre schlimmen, aber sehr schlauen Kinder zu retten; oder, was auf dasselbe hinausläuft: Gott wird kommen, um seine ungehorsamen, aber hoffnungsvollen Kinder zu retten. Angesichts solch rührender Einfältigkeit, was technische Lösungen (oder Technikapokalypsen) betrifft, fällt es manchmal schwer, an technischen Projekten und ihren Leuten festzuhalten. Diese Projekte sind nicht feindlich. Sie können Wichtiges dazu beitragen, unruhig zu bleiben und produktive, eigensinnige Verwandtschaften (oddkin) einzugehen. Die zweite häufige Reaktion lässt sich weniger schnell verwerfen und ist noch destruktiver. Es ist die Aussage: Das Spiel ist vorbei, es ist zu spät. Es ist sinnlos zu versuchen, irgendetwas besser zu machen oder zumindest einander wirksam zu vertrauen, um gemeinsam für eine wiederauflebende Welt zu arbeiten und zu spielen. Einige WissenschaftlerInnen aus meinem Bekanntenkreis sind voll von diesem bitteren Zynismus, obwohl sie eigentlich sehr hart dafür arbeiten, eine positive Veränderung für Leute und andere Kritter zu bewirken. Auch Leute, die sich als kritische KulturtheoretikerInnen oder als politisch pr...