Beschreibung
Spätestens seit seiner "Theorie des Films" (1960), die sich der "Errettung der äußeren Wirklichkeit" verschrieben hatte, gilt Siegfried Kracauer als Realist. Seine Aufmerksamkeit für die "winzigen Katastrophen" des Alltags und seine Hoffnung, dass der Film der Wirklichkeit Fragmente entreißen möge, machen seine Texte für Geschichtswissenschaft, Film- und Medientheorie bis heute reizvoll. Mit dem "Realen" untersucht der Band den Fluchtpunkt in Kracauers Denken. Mit Beiträgen von Stephanie Baumann, Sabine Biebl, Thomas Elsaesser, Peter Geimer, Michael Girke, Michael Gormann-Thelen, Gerhard Hommer, Johannes von Moltke, Inka Mülder-Bach, Till van Rahden, Drehli Robnik, Jörg Später und Maria Zinfert.
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Autorenportrait
Sabine Biebl ist Literaturwissenschaftlerin und arbeitet als Lehrbeauftragte u.a. an der Universität Konstanz. Helmut Lethen ist Gastprofessor an der Kunstuniversität Linz. Johannes von Moltke ist Professor für German Studies und Screen Arts and Cultures an der University of Michigan.
Leseprobe
Einleitung Kracauers Schauplätze der Evidenz Helmut Lethen Am 12. Dezember 1930 erschien im Beiblatt des Berliner Film-Kuriers als sechster Beitrag in der Folge "Kritik ist schöpferische Kunst" ein Portrait des einflussreichsten Filmkritikers der Republik. Abb. 1: Karikatur Siegfried Kracauers, in: Film-Kurier, 13.12.1930. I. Kracauer als public intellectual. Er stammt, so berichtet der Artikel, aus Frankfurt am Main und "begann seine Laufbahn als Architekt und mit dem Studium der Philosophie, schrieb daneben Aufsätze für die Frankfurter Zeitung." Seit sieben Monaten, berichtet der Interviewer, arbeitet Kracauer für das Feuilleton der FZ in Berlin. Als aufsehenerregend wird seine soziologische Studie über die Lage der Angestellten, die soeben erschienen ist, erwähnt. Im Film-Kurier gilt er offenbar als der Intellektuelle, der das Kino mit seiner elektrisierenden Atmosphäre als einen Schauplatz der Evidenz und wichtigen Gegenstand soziologischer Analyse des Großstadtpublikums entdeckt hat, von der er in seinen Kritiken berichtet. Dem Interviewer vertraut er an, dass er dem Tonfilm mit seinem "fürchterlichen Redefluss" skeptisch gegenübersteht. Im Übrigen müsse auch die Filmindustrie allmählich einsehen, dass "die ununterbrochene Produktion von Tagträumen für kleine Angestellte auf die Dauer Erfolge nicht erzielen" werde. Proben seiner Analyse des Films als Tagtraum hatte er schon in den Jahren zuvor im Feuilleton der Frankfurter Zeitung geliefert - etwa in der zweiteiligen Abrechnung mit dem "heutigen Film und sein[em] Publikum" Ende 19282 oder der Serie "Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino," die "den Erzeugnissen [der] Filmkonzerne die Beichte" abnahm und sie dadurch dazu brachte, ihr "unzartes Geheimnis [auszuplaudern]". Der Autor dieser Essays (der Beichtvater der deutschen Filmindustrie?) raucht Pfeife, ein Bild der Gelassenheit. Das zweite Bild auf dem Cover unseres Buchs, der Ausschnitt eines Gitters, erinnert an Kracauers lange Zeit vergessene Dissertation, der es entstammt. 1914 promovierte er als Architekt mit einer Arbeit über Die Entwicklung der Schmiedekunst in Berlin/Potsdam und einigen Städten der Mark Brandenburg vom 17. Jahrhundert bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Wer glaubt, dass für Kracauer die Kinoleinwand ein Fenster zum Realen bildet, den kann dieses Gitter irritieren. Denn es kam bei der Ornamentik des Treppengeländers von Bürgerhäusern, die Kracauer kulturhistorisch beschreibt, nicht auf den Durchblick an, den sie freigeben, sondern auf das Handwerk der Schmiede, als ein Indiz für das "Ideal städtischer zivilisatorischer Lebensführung." Er geht so nah wie möglich ran, zeichnet die Ornamente nach. Die Aufmerksamkeit für das Gitterwerk des Treppenhauses antwortet auf ein ihm verdächtiges Denken, das "das Nächste, mit dem wir es zu tun haben, so überaus transparent macht, daß wir kaum noch sehen, was und wie es ist." Auch für den Soziologen Kracauer galt es, erst einmal das Ornament der Massen nachzuzeichnen, bevor es kulturphilosophisch mit der "Tiefe" von Fortschritts- oder Untergangszenarien verbunden werden konnte. Hatte er die soziale Oberfläche jedoch verzeichnet, konnte er pessimistische Tiefenschärfe nicht vermeiden, wie in der Skizze Weihnachten in Berlin von 1930 (vgl. den Beitrag von S. Biebl). Bei Nietzsche hatte er lesen können, dass die deutsche Bildung ein Handbuch der Innerlichkeit für äußere Barbaren sei. Jetzt erfasst er die dauerhaft fatal deutsche Evidenz dieses Gedankens: "Straßentrauer und Familienglanz - das Bild war darum so niederdrückend, weil es auch den Alltag entlarvte. Noch immer ist die deutsche Öffentlichkeit verwaist, weil das deutsche Volk in der Innerlichkeit seine Stärke zu haben glaubt. Und lieber steckt es sich in der Stube Kerzen an, als daß es die Dunkelheit draußen erhellte." II. Das Interview für den Film-Kurier und das Gitter sind Überreste von Kracauers Tätigkeiten in der Weimarer Republik, deren Tableau Jörg Später in seiner ausgezeichneten Biografie sinnfällig vor Augen führt. Ganz heimisch war Kracauer schon in dieser Republik nicht. Zu oft widerfuhr ihm, was auch Ginster, der Held seines ersten Romans aus dem Jahre 1928, in der Regel erlebte: "Immer hatte Ginster bei öffentlichen Veranstaltungen Pech. Entweder kam er zu spät, oder er erhielt zu seiner Überraschung einen ausgezeichneten Platz, der aber, wie sich bald herausstellte, nur darum freigeblieben war, weil er nach der verkehrten Seite lag." Konnte der jüdische Autor 1928 in seinem Roman das Schicksal eines habituell Deplatzierten noch in der Form eines Slapsticks nach der Art Charlie Chaplins vorführen, so ist er selbst in seinen profunden Reportagen als Autor eher ab- als anwesend (vgl. die Beiträge von G. Hommer und S. Biebl). Auch im Freundeskreis mit den anderen "jüdischen Häretikern" Walter Benjamin, Ernst Bloch und Theodor Adorno ist er nicht in einem stabilen Vertrauensraum verankert. Was Kracauer über Begegnungen mit Walter Benjamin schrieb - es sei, als ob man sich auf einer Straßenkreuzung träfe, um in verschiedene Himmelsrichtungen weiterzugehen - gilt auch für ihn, einen Liebhaber der Distanz des nie richtig Eingebürgerten. Auch mit seiner positiven Einschätzung der Arbeitslager als Versuchslabore der Gesellschaft, in denen sich politisch extrem entfernte Positionen begegnen sollten, stand er abseits der schwebenden Radikalität der Freunde (vgl. den Beitrag von M. Girke und M. Gormann-Thelen). Die "Navigation im Strom der Entfremdung" (Bloch) gelingt Kracauer relativ schmerzlos zu Zeiten der Republik; mit der Emigration gleich nach dem Reichstagsbrand wird der Balanceakt dauerhaft auf die (Zerreiß-)Probe gestellt. III. Die Stationen des Exils, Paris, Marseille, Lissabon und New York, bekommen Kracauer und seine Frau in aller Härte zu spüren. Mit dem Gedanken der "transzendentalen Obdachlosigkeit" aus der Theorie des Romans von Georg Lukács waren viele Intellektuelle im Kaiserreich groß geworden (vgl. den Beitrag von J. Später). In der imaginierten Kältesphäre des Intellekts ließ es sich auch in der Weimarer Republik leben. Die reale Heimatlosigkeit war anders, sie musste jetzt auch theoretisch verkraftet werden. Es ist faszinierend, d.?h. hinreißend und schmerzlich zugleich, wie Kracauer die erzwungene Trennung von vertrauten Lebenssphären in Erkenntnisgewinn ummünzt. Davon berichten die Artikel von S. Baumann, I. Mülder-Bach, D. Robnik und T. van Rahden. Die Fragen, die ihre Überlegungen aufwerfen, sind brisant, weil unabweisbar aktuell. Lässt sich die rechte Liebe zur Welt (nur) in der Loslösung von der Heimat gewinnen? Ist Entfremdung Voraussetzung von Empathie und Realismus? Kann das irdische Exil zu einer postnationalen Heimat werden? Fördert Entwurzelung den "Elan zur Realität" (I. Mülder-Bach)? Landet der Grenzgang auf der Suche nach dem Realen zwangsläufig im Wartesaal der entzauberten Moderne? Verkörpert der ruhelos wandernde Ahasver eine Idealfigur des Historikers (vgl. die Beiträge von S. Baumann und D. Robnik), der die von der Geschichtsschreibung vergessenen oder verachteten "Lumpen" aufsammelt (vgl. den Beitrag von T. van Rahden)? So werfen die Artikel unseres Buches einen dunkel alarmierenden Blick auf die Jetztzeit, in der sich alle Momente eines Messianismus, der einmal dem Warten Sinn gab, verflüchtigt haben und Flucht zu einem Millionenprojekt geworden ist. IV. Denkwürdigerweise finden sich Antworten auf die aufgeworfenen Fragen der Heimatlosigkeit in Kracauers Filmästhetik. Wenn die Produktion von Sinngebung der allgegenwärtigen Gewalt in den angestammten Heimaträumen inflationäres Ausmaß angenommen hat, muss ein Ort gefunden werden, an den der Furor der Bedeutungen nicht heranreicht, ein Ort, an dem uns der Schock einer unverfügbaren Natur zustößt (vgl. den Beitrag von P. Geimer) und uns damit dem letzten Rest unseres irdischen Daseins, seiner nicht mehr human(istisch)en Fundierung begegnen lässt. Das leisten für Kracauer Filmkamera und Fotoapparat. Sie decken ...