Beschreibung
Als die NSDAP 1933 die Macht in Deutschland übernahm, wurde auch der Alltag von Kindern durch die vom Nationalsozialismus beabsichtigte Umgestaltung der Gesellschaft stark beeinflusst. Kinder mussten nun lernen, 'richtig' zu grüßen; ihre Freundschaften konnten durch die rassistische Politik des Nationalsozialismus beendet oder beeinträchtigt werden; sie wurden zu Denunziationen aufgefordert; politische Maßnahmen und Ereignisse waren Gesprächsthemen im Familienkreis, die zu Konflikten führen konnten. 'Politik' war also im Alltagsleben der Kinder gegenwärtig - wenn auch in unterschiedlicher Intensität und ohne dass dies allen Betroffenen immer bewusst war. Heidi Rosenbaum untersucht in ihrer groß angelegten Studie, die auf zahlreichen Zeitzeugengesprächen basiert, das alltägliche Leben von Kindern in vier Milieus: dem gehobenen Bürgertum einer Universitätsstadt, der Arbeiterschaft einer Kleinstadt, einem protestantischen und einem katholischen Dorf in Niedersachsen. Dabei kann sie zeigen, dass Brüche und Kontinuitäten den Alltag der Kinder unterschiedlich stark prägten.
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Autorenportrait
Heidi Rosenbaum war von 1993 bis zu ihrer Pensionierung 2006 Professorin für Europäische Ethnologie an der Universität Göttingen.
Leseprobe
Immer bleibt deshalb eine Kindheit im Faschismus eine Kindheit. Peter Brückner Einleitung Fragestellungen Vor ungefähr 20 Jahren bin ich bei der Vorbereitung eines Seminars zu "Kindheit im 20. Jahrhundert" auf das Thema dieses Buches gestoßen. Ich musste feststellen, dass es nur wenig Literatur über den Alltag von Kindern im Nationalsozialismus gibt. Andere Zeiträume waren damals schon gut erforscht. Vor allem für das Deutsche Kaiserreich lagen viele Untersuchungen vor, die sich mit Kindheit in verschiedenen sozialen Milieus, teilweise auch vergleichend, beschäftigten. Für die 1920er Jahre gibt es einige Literatur aus dem Umfeld der sozialreformerischen und sozialistischen Bewegungen, für die frühen 1930er Jahre die für die Neue Kindheitsforschung grundlegende Untersuchung von Martha und Hans Heinrich Muchow, die bereits mit teilnehmender Beobachtung gearbeitet haben. Kindheit in den 1950er und 1960er Jahren war zwar nicht umfassend, aber doch relativ gut bearbeitet worden. Dazu haben unter anderem die Shell-Jugendstudien beigetragen, die seit 1953 durchgeführt werden. Ausgelöst durch das bahnbrechende Buch von Philippe Ariès über die Geschichte der Kindheit gab es auch in Deutschland einen Boom der sozialhistorischen Kindheitsforschung. In den 1980er Jahren entstanden mehrere Studien und es vollzog sich außerdem die Wendung zur Neuen Kindheitsforschung, die den kindlichen Alltag aus der Perspektive der Kinder erforscht und sich dazu ethnographischer Methoden bedient. Zur Kindheit in der NS-Zeit liegen viele autobiographische Erzählungen vor sowie etliche Untersuchungen über Schule und Hitler-Jugend. Der Alltag der Kinder jenseits dieser Institutionen ist jedoch kaum erforscht worden. Angesichts dieser Literaturlage bin ich auf die Idee für ein Forschungsprojekt über "Kinderalltag im Nationalsozialismus" gekommen. Es hat dann noch mehrere Jahre gedauert, einen detaillierten Forschungsplan und -antrag zu entwickeln. Die VolkswagenStiftung hat ihn erfreulicherweise akzeptiert und drei Jahre lang (1999-2002) finanziert. Das damals erhobene Material ist Grundlage dieses Buches. Ihm liegen zwei Hypothesen zugrunde: 1. Zum einen gehe ich davon aus, dass im Nationalsozialismus selbst der Alltag der Kinder kein von der Politik verschonter Lebensbereich gewesen ist. Der Nationalsozialismus intendierte, die deutsche Gesellschaft zu revolutionieren. Es ging ihm nicht um eine allmähliche Umgestaltung, sondern um einen radikalen Umbruch. Kontinuitäten sollten aufgebrochen, "alte Zöpfe" abgeschnitten werden. Dieses "Programm" zielte nicht nur auf den grundlegenden Umbau des politischen Lebens und der Arbeitswelt, sondern auch auf das Alltagsleben der Bevölkerung. Der Alltag der Kinder war von diesen Bestrebungen nicht ausgenommen. Ganz im Gegenteil zielte die nationalsozialistische Politik darauf ab, gerade die Jugend für die "Bewegung" zu gewinnen. Die Bildung einer für alle Kinder und Jugendlichen neuen Einheitsorganisation, der Hitler-Jugend, war dafür zweifellos das sichtbarste Zeichen. Hinzu kamen Eingriffe in die Schule (Säuberung der Lehrerkollegien, neue Richtlinien und Rituale, Schulreform). Die neuen Medien, Radio und Film, wurden eingesetzt, um auch die Kinder gezielt propagandistisch zu bearbeiten. Zwar blieb kein Teil des kindlichen Alltags von politischer Beeinflussung vollständig unberührt, die einzelnen Bereiche veränderten sich aber in unterschiedlichem Ausmaß. Den stärksten Zugriff auf die Kinder hatte das Regime zweifellos über die Institutionen Schule und Hitler-Jugend, die für alle Kinder verpflichtend waren. In anderen Bereichen des kindlichen Lebens waren hingegen Umbrüche weniger ausgeprägt oder spürbar, Kontinuitäten augenfällig. Das gilt besonders für das private Leben, das größere Chancen bot, sich gegenüber der Politik und ihren Zugriffen abzuschotten. Gleichwohl blieben weder Familie noch Lektüre, weder Freundschaften und Spiele gänzlich unpolitische Bereiche. Die Kinder lebten unter dem NS-Regime daher eine Kindheit, die in einigen Segmenten an die Kindheitserfahrungen ihrer Eltern anknüpfte, in anderen unterschied sie sich jedoch deutlich davon. Kontinuitäten und Brüche waren eng miteinander verwoben. Während in der Literatur der Fokus überwiegend auf dem Leben der Kinder in der Hitler-Jugend und der Schule liegt, geht es mir in diesem Buch darum, den gesamten Alltag der Kinder zu untersuchen, das heißt gerade auch jene Bereiche zu erfassen, in denen das Leben weitgehend in hergebrachten Bahnen verlaufen ist. Dieses Geflecht aus Kontinuitäten und Brüchen im Alltag der Kinder steht im Zentrum. Kontinuität soll nun nicht heißen, dass alles unverändert geblieben ist. Wandlungsprozesse finden ständig in einer Gesellschaft statt, ohne dass sie Brüche mit den vorangegangenen Entwicklungen darstellen. Als Bruch wird in diesem Buch hingegen eine starke, gravierende Veränderung von Strukturen oder Beziehungen bezeichnet. Dabei muss unterschieden werden zwischen Brüchen, die die Kinder selbst als solche wahrgenommen haben, und jenen, derer sie sich vermittelt über die Reaktionen ihrer Eltern auf Ereignisse oder Maßnahmen der Nationalsozialisten bewusst geworden sind. Die Hypothese von der politischen Durchdringung oder Politisierung des Kinderalltags bedeutet nun nicht, dass sie den Betroffenen auch bewusst gewesen ist. Ganz im Gegenteil widerspricht sie der Einschätzung etlicher Betroffener, von denen manche explizit formulierten, ihre Kindheit sei aber völlig unpolitisch gewesen. Dieser Widerspruch löst sich auf, wenn man sich klarmacht, dass die Kinder nichts anderes kannten. Für sie existierten keine alternativen Konzepte und Möglichkeiten des Aufwachsens. Die Politisierung war für sie zum Alltag geworden, gehörte zu den Selbstverständlichkeiten und Routinen, die für ihn charakteristisch sind. Hinzu kam, dass in vielen Fällen weder Eltern noch andere Erwachsene die politischen Maßnahmen und ideologischen Konstrukte infrage stellten - entweder weil sie selbst von ihnen überzeugt waren oder weil sie sich aus Vorsicht gegenüber den Kindern mit kritischen Bemerkungen zurückhielten. 2. Der Alltag von Kindern ist nun nicht überall gleich. Er unterscheidet sich danach, wo und unter welchen Bedingungen sie aufwachsen, ob auf dem Land oder in der Stadt, ob im Wohlstand oder eher unter kargen Bedingungen, in welchem religiösen und weltanschaulichen Umfeld sie leben. Wenn auch der Nationalsozialismus mit seiner Ideologie und Politik die gesamte Gesellschaft, alle gesellschaftlichen Bereiche und Mitglieder erfassen und durchdringen wollte, befanden sich die verschiedenen sozialen Milieus doch in unterschiedlicher Nähe oder Distanz zur nationalsozialistischen Ideologie und Politik, waren mithin für die Propaganda unterschiedlich empfänglich. Das gilt entsprechend, so die zweite Hypothese, ebenfalls für den Alltag der Kinder. Weder waren, wie erwähnt, dessen einzelne Teile gleichmäßig von der Politisierung betroffen noch galt das für die verschiedenen Milieus in identischer Weise. In manchen wirkten politische Maßnahmen und die Propaganda auf die Kinder in erster Linie über die Schule ein, in anderen über die Hitler-Jugend, in wieder anderen über das gesamte soziale Umfeld. Kontinuitäten und Brüche prägten deshalb den Kinderalltag in den sozialen Milieus in unterschiedlicher Intensität. Deshalb wurde die Untersuchung so angelegt, dass der Alltag von Kindern exemplarisch in vier verschiedenen sozialen Milieus erforscht und miteinander verglichen werden konnte. Sie unterscheiden sich nach den sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen, unter denen die Menschen lebten, der Konfessionszugehörigkeit sowie der (vermuteten) Nähe oder Ferne zum Nationalsozialismus. Konkret handelt es sich um das gehobene bürgerliche Milieu in der mittelgroßen Universitätsstadt Göttingen, das Arbeitermilieu in der Kleinstadt Hann. Münden sowie um zwei ländliche Milieus, die sich in Bezug auf die dominierende Konfession und die Sozialstruktur unterscheiden. Mit der Mil...
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Kinder unter dem Hakenkreuz