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Zeitalter der Gewalt

eBook - Zur Geopolitik und Psychopolitik des Ersten Weltkriegs

Erschienen am 08.01.2015, 1. Auflage 2015
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593420899
Sprache: Deutsch
Umfang: 256 S., 11.82 MB
E-Book
Format: PDF
DRM: Digitales Wasserzeichen

Beschreibung

Im Ersten Weltkrieg suchten die westlichen Demokratien ihre liberalen Errungenschaften gegen die Mittelmächte zu verteidigen. Der Krieg wurde jedoch zur elementaren Zäsur für das 20. Jahrhundert und wies voraus auf spätere totalitäre Gewaltexzesse. Die Autorinnen und Autoren beleuchten die vielfältigen Verwerfungen im Zeitraum von 1900 bis 1930: die politisch-räumliche und ethnische Neuordnung Europas, die daraus resultierenden gesellschaftlichen Umwälzungen auch über Europas Grenzen hinaus und die Neumodellierung von Identitäten. Denn die Schlachtfelder des "Großen Krieges" gerieten zu Geburtsstätten "neuer Menschen" - von Pazifisten wie emanzipierten Frauen, Bolschewisten wie Faschisten. Man erwartete nichts weniger als eine radikal umgestaltete Gesellschaft und einen historischen Zeitenbruch.

Autorenportrait

Michael Geyer ist Professor für Geschichte an der Universität Chicago. Helmut Lethen, Prof. em. Dr. phil., ist Literaturwissenschaftler und Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften Wien (IFK). Lutz Musner, Dr. habil., ist dort als Forschungsleiter tätig.

Leseprobe

Vorwort
Michael Geyer
Der vorliegende Band versammelt Beiträge einer Tagung, die im Herbst 2011 am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien stattfand. Dies war eine erste Konferenz zum Thema Geopolitik des Ersten Weltkriegs, der in den Jahren 2012 und 2013 zwei weitere zu den Themen "Technopolitik" und "Politik der Sinne" folgten.
Die gesamte Serie mit dem Titel A Time for Destruction diente dem Ziel, den Ersten Weltkrieg aus der Rückschau des 21. Jahrhunderts in eine neue Perspektive zu rücken und zeitlich wie auch räumlich in einen breiteren Kontext europäischer und globaler Entwicklungen einzubetten. Der leitende Gedanke dabei war, den dinglich wie gedanklich erstarrten und inzwischen zur Formel geratenen Monumentalismus der Weltkriegsvorstellungen und nicht zuletzt der Weltkriegserinnerung aufzubrechen, der sich wie ein Panzer um dieses Ereignis gelegt hatte. Ohne die grundstürzende Qualität des Krieges zu unterschätzen, wollten wir die Vorstellung des Krieges als "Urkatastrophe" prüfen.
Ausgangspunkt war die Überlegung, dass der Große Krieg ein erster Verdichtungsknoten in einem seit geraumer Zeit anschwellenden Prozess der Gewaltorganisation war, in dem ältere Formen und Vorstellungen durch neue, imperiale und globale Gewaltprojektionen sowie industrielle Gewalttechniken überlagert wurden. Letztere sollten die Entwicklung Europas bis in das späte 20. Jahrhundert prägen. Der Krieg war, wenn man so will, eine Katastrophe mit Dauer. Der Zeitpunkt schien uns jedoch verfrüht für eine Konferenz, die diesen Gesamtkontext behandelt hätte. Sie hätte den Bogen vom Ersten Weltkrieg bis in den Kalten Krieg spannen müssen, von den kleinen Kriegen auf dem Balkan bis zu den "vergessenen Kriegen" der nationalen Befreiung, von Kolonialismus und Rassismus bis hin zu den Bürgerkriegen in Folge des Weltkriegs und zu den Bürgerkriegen des späten 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts. Wichtiger als diese Sicht der Dinge war uns die Frage, ob wir mit der Vorstellung des Großen Krieges als "Urkatastrophe" nicht falsch liegen - und das nicht nur deswegen, weil zumindest in der östlichen Hälfte Europas diese Katastrophe nicht als Ende, sondern als neuer Anfang erlebt wurde. Dabei wollten wir keineswegs die Bedeutung des Ausmaßes der Zerstörung herunterschrauben. Vielmehr experimentierten wir mit der Idee, dass der Krieg nicht ein monumentales Ding an sich sei, dessen Spuren wir in der Erinnerung festmachen können, sondern ein explosiver Moment der Krise in einer sich verändernden Welt. Die Idee einer "Urkatastrophe" schien uns zu sehr der Vorstellung nachzuhängen, der Krieg sei in eine politisch und sozial intakte Ordnung der Welt eingebrochen, während wir ihn eher als Ausdruck einer Zeit der dramatischen Veränderung der Welt zu begreifen versuchten. Uns interessierte, welchen Unterschied die Gewalt in dieser Veränderung ausmachte.
Der Weltkrieg - damit sind immer die großen und kleinen Weltkriegsakteure gemeint - brach, so die Ausgangsüberlegung, nicht in eine festgefügte Ordnung der Dinge ein, sondern versuchte mit zerstörerischen Mitteln eine sich verändernde Welt neu zu fügen. Dies geschah dann auch - aber ganz anders, als die Kalkulationen aller Kombattanten vorgesehen hatten. Die Eigendynamik des Krieges verselbständigte sich. Er wurde zur existentiellen Krise für Individuen wie für Nationen. Er griff radikal in das Gefüge der internationalen Beziehungen ein. Er überwältigte Sinneswahrnehmungen und zertrümmerte Sinnstiftungen. Die Ungeheuerlichkeit des Krieges wird sich immer wieder an dem Erschrecken und dem Erstaunen über die vernichtende Gewalt des Ersten Weltkriegs festhaken, die sich tief in die Erinnerung des 20. Jahrhunderts eingegraben hat. Es war eine Politik mit anderen Mitteln in einem, was die Gewaltverhältnisse anging, bereits demokratischen und industriellen Zeitalter, in dem Gewalt immer von der gesamten Gesellschaft ausging und auf diese mit der geballten Destruktionskraft industrieller Massenproduktion und den Ressourcen der ganzen Welt zurückschlug.
Wir haben drei Zugangspunkte gewählt. In einem ersten Zugriff versuchten wir, die tektonischen Verwerfungen europäischer Räume zu bestimmen. Die Beiträge von Karl Schlögel, Hew Strachan und Lutz Musner haben jeweils eine bestimmte Geopolitik im Auge. Allen drei Beiträgen ist gemein, dass sie Raum nicht schlechthin als Handlungsrahmen verstehen, sondern als Gewaltpotential begreifen. Gewalt konstituiert Räume, schafft aber auch die Bedingungen (und Grenzen) für die Mobilisierung von Gewalt. Eine zweite Perspektive richtete sich darauf, in knapper Form eben jene besondere Schrecklichkeit des Krieges zu artikulieren, welche die Vorstellung der Zeitgenossen so radikal sprengte. Jay Winter, Richard Bessel und Laura Engelstein widmen sich diesem Themenkomplex, indem sie auf je eigene Weise - mit Blick auf die Anwendung von Giftgas, auf die Politik von Migration und Vertreibung sowie auf Terror als Mittel der Kriegführung - erarbeiten, wie dieser Krieg "aus der Art" der vorangegangenen Kriege und mehr noch aus jener der bis dato üblich gewesenen Vorstellungen von Krieg schlug. Der dritte Teil der Beiträge wendet sich dann der Politik der Sinne zu und legt offen, wie zentral diese Politik für jegliche Form der Kriegführung ist. Krieg ist staatlich ausgelöste und disziplinierte Leidenschaft. Der Preis des Sieges ist immer Tod und Zerstörung. Was daraus folgt, war durchaus überraschend. Tamara Scheer und Patrick Houlihan verweisen in zwei ganz unterschiedlichen Zugriffen auf die Beharrungskraft von Traditionen und auf überkommene Lebenskonzepte als Ressource, die im Einbruch der Gewalt eher noch gestärkt werden. Elisa Primavera-Lévy und Helmut Lethen zeigen andererseits, wie Gewalt erst in der Artikulation zur Erfahrung wird und wie sehr die Art und Weise dieser Erfahrung durch Vorgaben einer künftigen Ordnung der Welt und damit auch des Weltinnenraums der Seele geprägt werden. Der Erste Weltkrieg wird hier zu einem Laboratorium für eine Politik der Sinne, die gerade deshalb so nachhaltig wirkt, weil sie eine Ordnung der Welt verspricht.
Die tektonischen Verwerfungen weniger des europäischen Raumes als der europäischen Zivilisation entlang den Brüchen der gewaltigen kriegerischen Auseinandersetzung in Europa gewinnen so an Kontur. Das Bild vom kommenden Krieg als einem Erdbeben oder als funkensprühender Kollision von Kraftfeldern gehört zu den eindringlichsten Vorahnungen der Zerstörung. Die Totalität des Krieges hat dann in der Tat in der Art eines Erdbebens alle Aspekte der europäischen Zivilisation erfasst: die räumliche Ordnung Europas und der Welt und damit Herrschaft und Legitimation; die Ordnung der Lebenswelten mit ihren sozialen Bindungen von Individuen und Gesellschaft; und nicht zuletzt das subjektive Selbstgefühl, die Seelenordnungen und damit den weiten Raum der Innerlichkeit in der Erfahrung außerordentlicher Gewalt.
Michael Geyer, Chicago im Juli 2014
Von der Lust am Leben zur Arbeit am Tod: Zum Ort des Ersten Weltkriegs in der europäischen Geschichte
Michael Geyer
Krieg scheint uns in weite Ferne gerückt. Vielleicht fällt es heute deshalb so leicht, an den Ersten Weltkrieg zu erinnern. Dies geschieht mit Schaudern angesichts der Schrecken dieses Krieges und im Bewusstsein, dass seine Folgen katastrophisch waren. Aber das Erschauern findet hinter dem warmen Ofen statt und die Bilder des Schreckens sind schon lange keine erlebte Erinnerung mehr. Das mindert den Wert der Bilder nicht - und letztlich auch nicht die Erinnerung an diesen Krieg. Es ist nun einmal so, dass wir, die in eine andere Welt - unsere eigene, kleine, kriegsfreie Welt - hineingewachsen sind, die glücklichen Nachgeborenen sind.
Das Glück der Nachgeborenen - es ist ein Glück, was immer Helmut Kohl damit machen wollte - führt uns auf geradezu traumwandlerische Art zurück in die letzten Tage des Friedens vor dem Ersten Weltkrieg, die dann so kräftig verhagelt wurden. Wir blicken zurück auf das Jahr 1913 und beginnen offensichtlich erst jetzt, ein Jahrhundert später, die ganze Fülle und die außerordentlichen Möglichkeiten dieser Vorkriegszeit zu begreifen. Vielleicht sind wir etwas temperierter, jedenfalls älter (demografisch gesehen) und wir leben in einem kleineren Deutschland als die damaligen Zeitgenossen. Aber wir schließen an eben jene Lust am Leben an, die ein halbes Jahrhundert Wachstum und Frieden mit sich gebracht hat, damals wie heute.
Man wird zwar vorsichtig sein wollen und daran erinnern, dass Europa damals wie heute so friedlich auch wieder nicht war und ist. Die großen europäischen Imperien, allen voran Großbritannien, haben praktisch unentwegt Krieg geführt. Russisch-Polen war in den 1860er Jahren und in den revolutionären Tagen des Jahres 1905 im Aufruhr. Auf dem Balkan und im östlichen Mittelmeer herrschte Krieg. Die große Welle kolonialer Kriege - mit ihrem Höhepunkt in Südafrika, in China und in Südwestafrika - war gerade eben erst abgeflaut. In dieser Hinsicht war die Lage unserer gegenwärtigen Situation nicht unähnlich. Aber ein "Weltkrieg", ein großer Krieg der Mächte, lag für die überwiegende Zahl der Zeitgenossen damals - wie heute - weit zurück. Persönliche Erinnerungen an einen solchen Krieg waren bzw. sind nur aus zweiter oder dritter Hand zu erfahren. Die extreme Gewalt der Weltkriege, die unbegreiflichen Opferzahlen mit Abermillionen von Toten sowie der selbstzerstörerische Heroismus dieser explodierenden Zeit sind uns fern geworden und werfen nach dem friedlichen Umbruch von 1989/90 kaum noch Schatten auf die Gegenwart.
Die Zukunft erschien 1913 noch weiter offen als heute, ein unendliches Feld von Möglichkeiten; auch wenn es dann ganz anders kam. Die Wiederentdeckung dieser Zukunft der Vergangenheit gehört zu den aufregendsten Entwicklungen in der neueren und neuesten Geschichtswissenschaft. Befangen in einer Zeit der Extreme, hatten wir älteren Historiker lange Zeit in der Epoche vor 1914 wenig mehr gesehen als eine Zeit, die unausweichlich auf die Zeit der Extreme hineilte. Daran änderte auch die Historikerdebatte über das Kaiserreich wenig, in der immer wieder der wachsende Wohlstand, die zunehmende Lebensqualität und die Ausbreitung einer zivilen Gesellschaft hervorgehoben wurden, nur um diese Errungenschaften dann durch den Großen Krieg verschluckt zu sehen. Heute ist die Stimmung vor allem in der Medienöffentlichkeit umgeschlagen. Der Weltkrieg wird gerade deshalb als "Urkatastrophe" gesehen, weil 1913/14 so viel Zukunft auf dem Spiel stand. Man muss schon mit offenen Augen geschlafen haben, um in diesen Krieg hinein zu taumeln, so jedenfalls könnte man Christopher Clarks Titel Die Schlafwandler interpretieren. Schlafwandeln ist eine nicht-bewusste psychomotorische Aktivität. Die Clark'schen Schlafwandler sind gewissermaßen in einen bösen Traum geraten und - so ließe sich die Geschichte weiterspinnen - vor lauter Schrecken bis heute nicht mehr aufgewacht. Die neue Erinnerung an die alte Zukunft wird damit zu einer Dornröschengeschichte. Wie der Prinz, der sich endlich durch das Dick­icht durchgeschlagen und die Prinzessin wach geküsst hat, führen wir ein Leben weiter, das durch einen bösartigen Irrtum in einen Tiefschlaf versunken gewesen war. Später, im Kalten Krieg, sagte man "eingefroren" und meinte das Gleiche. Hinter den Erinnerungen an das gute Jahr 1913 steht, ausgesprochen oder unausgesprochen, die Phantasievorstellung, wie schön es wäre, wenn wir das kurze Jahrhundert der Extreme überspringen, den Traum der Jugend im Jahre 1913 zu Ende träumen und heute direkt an die Fülle und den Reichtum der 1913 erst entstehenden Moderne anknüpfen könnten.
Märchen und märchenhafte Erzählungen können das: Zeit stornieren und überspringen. Sie können Zeit mit großem Effekt - man denke nur an Steven Spielbergs Film Jurassic Park - mythopoetisch aufheben. Historiker können das nicht, denn ihre Berufung besteht in der Verständigung über das Fortschreiten der Zeit. Nicht dass es unbedingt aufwärts oder kontinuierlich vorwärts gehen müsste, aber voranschreiten muss die Zeit schon. Die Historie lebt davon, dass die Welt anders geworden und immer wieder neu im Werden ist. Dieses Bewusstsein der Veränderung macht die Faszination am Vergangenen möglich. Historiker, so könnte man in Anlehnung an Freud sagen, entschädigen für das Verschwinden und die gewaltsame Brechung der erfahrenen Welt, indem sie die Wiederkehr mit ihren Mitteln der Erzählung selbst in Szene setzen. Natürlich wird jeder, der die Freud'sche Parabel kennt, sich auch daran erinnern, dass sie diejenigen, die das Fortgehen der Zeit und die Brechung der erfahrenen Welt besonders eindringlich inszenieren, nicht aus der Finalität des Fortganges erlöst. Wenn es denn also kein Märchen vom Schlafwandeln und Wachküssen wird, kann man doch eine spannende Geschichte des Jahres 1913 und seiner Zukunft erzählen.
Beim In-Szene-Setzen der Vergangenheit haben Historiker einen gewissen Spielraum. Es geht ihnen weniger darum, Dinosaurier, Dornröschen oder eben eine vergangene Moderne in die Gegenwart zu verpflanzen, als um das Gedankenexperiment, was geschehen hätte können, wenn eine Entscheidung nicht so, sondern anders gefallen wäre - wenn also das Deutsche Reich im Juli 1914 keinen "Blanko-Scheck" ausgestellt hätte. Wenn es tatsächlich ministerielle Verantwortung gegenüber dem Parlament gegeben hätte. Wenn die Frage des Krieges in einer breiteren, politischen Öffentlichkeit zur Debatte gestellt worden wäre. Wenn die Entscheidung zum Krieg nicht gefallen wäre. So etwas nennt man kontrafaktische oder neuerdings virtuelle Geschichte und es ist nicht ganz zufällig, dass diese spekulative Art, Geschichte zu betreiben, gerade um die Jahrtausendwende Konjunktur hatte. Das zu diesem Zeitpunkt auf breiter Basis erfahrbar gewordene computergestützte Denken im Konjunktiv - Geschichte als Inszenierung ist ja immer auch ein Spiel mit Möglichkeiten - war sicherlich eine der Ursachen. Die sehr viel wichtigere war aber wohl, dass die Europäer die Zeit der Kriege hinter sich gelassen hatten und Krieg nun nicht mehr als ihre Gegenwart oder als zumindest noch in die Gegenwart hinein wirkend, sondern als ihre Vergangenheit betrachteten. Aus den Zwängen einer Nachkriegsgeschichte entlassen, lag es nahe, zu fragen, was hätte sein können, wenn es anders gekommen wäre. Dass man es besser gehabt hätte, vielleicht gar ein Weltreich retten, eine Moderne in ihrer Zeit ausleben oder Kakanien eine friedliche Beerdigung besorgen hätte können, sind einige der Implikationen dieser Art von Gedankenspiel.
Diese Art von Spiellogik hat sich inzwischen weitgehend verselbständigt und blitzt an allen Ecken und Enden auf. Wäre das Britische Empire nicht doch zu retten gewesen, wenn der Erste Weltkrieg verhindert worden wäre? Hätten Österreich-Ungarn oder das Russische Reich nicht weiter florieren können, wie es noch 1913 selbstverständlich schien? Was hätte aus dem Deutschen Reich werden können, dessen Leistungsvermögen und Dynamik 1913 so außerordentlich war? Wäre den Menschen vielleicht das Leid des 20. Jahrhunderts erspart geblieben? Schon sind wir wieder beim Träumen. Dornröschen wird gerade noch rechtzeitigt geküsst. Man sinkt zufrieden in den Sessel zurück. So inszeniert, bleibt kontrafaktische Geschichte ein Märchen, ein Spiel mit einer verlorenen Zeit. Geschichte wird zur virtuellen "Erfahrung" dessen, was so nie geschehen ist.
1913, das sagt selbst Florian Illies, lässt sich weder wiederholen noch ohne weiteres in die Zukunft erstrecken. Aber eine Absage an das virtuelle Nacherleben und an die Wiederholung einer Vergangenheit, die so nie geschehen ist, bedeutet keine Absage an eine kontrafaktische Geschichte. Denn deren Spielraum kann man auch anders nützen. Statt im Überspringen der gräulichen Zwischenzeit auf Fortsetzung und Vollendung eines epochalen Moments, eben 1913 als dem Epochenjahr des beginnenden Jahrhunderts, abzuheben, ist es sinnvoller, dieses Epochenjahr auf seine vielfältigen Potentiale, seine Zukunft hin zu denken und zu gestalten, abzutasten. Was ist wie, wo und durch wen aus dieser Zukunft des Jahres 1913 geworden? Wir können uns dann überlegen, wie sich einzelne Stränge dieser Zukunft biegen, drehen und wenden, welche überleben und welche zerstört werden, welche im Exil weit von ihrem Geburtsort ein zweites oder in der lokalen Anverwandlung ein drittes Leben gewinnen? Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, die Geschichte der großen Zerstörung durch eine Geschichte des Überlebens zu erweitern. Ja, ich bin der festen Überzeugung, dass das im 21. Jahrhundert die Zukunft der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert sein wird. Aufgrund der Zerstreuung der Möglichkeiten der Zukunft des Jahres 1913 in aller Welt wird das dann auch ohne großen Aufstand eine Geschichte Europas in der Welt werden. Eine "große Geschichte" wird jedenfalls ohne eine Geschichte der Zukunft, ihrer Zerstörung, ihrer Einverleibung und ihres Überlebens nicht auskommen können.
Es gibt aber auch andere Formen einer alternativen Geschichte, die eher analytische Köpfe anziehen müssten. Wenn wir tatsächlich Ernst machen wollen mit der Öffnung der Vergangenheit auf die Zukunft, dann sollten wir uns auch einem Zukunftsstrang zuwenden, der bis in die jüngste Zeit allenfalls als Gegengeschichte denkbar war. Eines der Potentiale des Jahres 1913 war die Möglichkeit einer Ausweitung des Friedens, der Pazifizierung Europas auch an seinen unruhigen Rändern und vielleicht sogar der Welt. Im Nachhinein scheint diese Idee irrwitzig und nicht einmal einer Dekonstruktion wert (etwa als imperialer Humanitarismus). Aber sollte sich die große Utopie der Jahrhundertwende ein Jahrhundert später nicht doch noch bewahrheitet haben? Würden die Universalisierung des Kapitalismus und die Globalisierung der Vernetzung letztendlich doch, wenn auch mit hundertjähriger Verspätung, zu einer Pazifizierung der Welt - und wenn nicht der Welt, so doch zumindest Europas - führen? Und wenn wir uns schon so weit aus dem Fenster lehnen wollen, können wir dann zumindest die Idee einer friedlichen Entwicklung ernst nehmen, um zu sehen, was schiefgelaufen ist? Ist der mitteleuropäische Fatalismus, dass eine solche Pazifizierung nie werde Realität werden können, eine historisch wohl verständliche, aber auch anachronistische Haltung einer Generation, die von den Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt ist, die wiederum alte Erinnerungen von Kriegsnot und Leid in vorangegangenen Zeitaltern der Extreme in sich aufnahmen?
Dass Militarisierung und Krieg nicht zwangsläufig sein müssen, hat die jüngste Gegenwart gezeigt. Daran möchte ich doch zunächst festhalten, denn dies war die hauptsächliche und überraschende Tendenz nach der Umwälzung von 1989-1991. Die historisch-theoretisch durchaus plausible Überlegung, dass Europa nach dem Ende des Kalten Krieges in eine anarchische Welt der Staatenkonkurrenz zurückfallen müsse, wurde - trotz des gewaltsamen Auseinanderbrechens Jugoslawiens und dem Abbrechen der sowjetischen Grenzregionen - nicht bestätigt. Daran hat bislang selbst die jüngste Finanzkrise trotz ihrer explosiven Potentiale einerseits und - sehr viel weniger beachtet - des Abbröckelns des Abrüstungskonsenses seit 2007 nichts geändert. (Dieser Abrüstungskonsens datiert zurück auf den Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty aus dem Jahr 1987.) Die große Umwälzung der europäischen Ordnung am Ende des 20. Jahrhunderts ist im Kern Europas friedlich verlaufen. Ihr Ergebnis ist eine epochale Demilitarisierung Europas. Die Antwort auf die Frage "Where have all the soldiers gone?" führt nicht mehr geradewegs in das Wirtshaus "Vom Ewigen Frieden" am Rande des Friedhofs, auch wenn meine Nachkriegsgeneration in diesem Wirtshaus Stamm­gast ist. Der Effekt der erstaunlichen Entwicklung des letzten Vierteljahrhunderts lässt sich sogar an den Rändern Kerneuropas beobachten. Die Pazifizierung der Nachfolgestaaten Jugoslawiens, so unvollkommen sie sein mag, steht exemplarisch für die Entschärfung ethnisch- und religiös-nationaler Konflikte, etwa in Spanien oder Irland. Je weiter wir nach Osten (Ukraine, Kaukasus) und Süden (Nordafrika und der Nahe Osten) gehen, umso weniger greift diese Beobachtung. Doch insgesamt zeigen die Analysen schwedischer Friedens- und Konfliktforscher, dass kriegerische Konflikte auch im Weltmaßstab gegenwärtig rückläufig sind. Die weitgehende Pazifizierung Europas erlaubt es uns, zu fragen, ob nicht doch vielleicht die klassisch liberale Utopie des 19. Jahrhunderts greift, die im 20. Jahrhundert so vollends fehlzulaufen schien. Und wenn dem so wäre, dann kann man sich auch fragen, warum diese Zukunft so lange auf sich warten ließ.
Versuchen wir also, in Anlehnung an die Jugend des Jahres 1913, "jung" zu denken, ohne unbedingt den Eifer der Jugend zu teilen. Was hätte es 1913 gebraucht, um den Frieden zu sichern; und was braucht es in der Gegenwart? Was wäre möglich geworden, wenn der Erste Weltkrieg verhindert worden wäre? Wer hätte überhaupt die Macht gehabt, den Krieg zu verhindern? Die Vergangenheit zu überspringen, Dornröschen wach zu küssen, ist ein anachronistisches Unternehmen. Aber zu fragen, was es angesichts der Demilitarisierung und "Entgewaltigung" am Ende des 20. Jahrhunderts am Anfang dieses Jahrhunderts gebraucht hätte, um eine friedliche Zukunft zu sichern und was diese friedliche Zukunft dann möglicherweise gebracht hätte, ist eine durchaus erwägenswerte Überlegung. Doch zunächst müssen wir uns mit dem Monstrum des Ersten Weltkriegs beschäftigen. Deshalb:
Eine erste Probe aufs Exempel
Es zeichnet sich seit einiger Zeit eine Trendwende ab, die zwei vielgelesene und -besprochene Bücher - Florian Illies' 1913 und Christopher Clarks Die Schlafwandler - auf den Punkt bringen. Das Buch von Illies gibt uns einen ersten Fingerzeig, wie wir die Frage nach der Möglichkeit alternativer Zukunftshorizonte angehen können, auch wenn seine feinfühligen Prätentionen nerven. Illies lässt Fragen der Politik beiseite; die Hochrüstung der europäischen Staatenwelt interessiert ihn ebenso wenig wie die explosiven Kriege auf dem Balkan. Aber er schiebt nicht einfach das Jahrhundert der Schrecken beiseite, als ob man sich ein besseres Jahrhundert wie einen rettenden Prinzen heranzaubern könnte. Er selbst sieht den frisson seines Buches in der Spannung zwischen der Friedlichkeit und Zivilität der Moderne des Jahres 1913 und der Katastrophe des Jahres 1914. Damit hat er den Nerv der Zeit getroffen. Gustav Seibt bemerkt mokant anerkennend: "Vielleicht will uns Florian Illies, der empfindsame Diagnostiker des Zeitgeistes, mit seiner Installation nur eine einfache Wahrheit vor Augen führen: Solche Herrlichkeiten, solcher Reichtum können über Nacht zu Grunde gehen, kein Friede, kein Wohlstand ist sicher vor dem Weltkrieg. 1913 wäre dann das opulenteste Buch der Krise." Ein Buch also, das mehr aussagt über eine gewisse katastrophische Stimmung im Jahre 2013 als über das Jahr 1913. Mag sein. Hier werden jedenfalls keine dicken Bretter gebohrt. Aber der huschende Duktus und das eigenartige Genre, das der Autor gewählt hat, haben doch ihre Konsequenzen. Das Buch ist stärker und anders als für solche Jahresbücher üblich in der Art einer Chronik geschrieben. Chroniken halten Gegenwart fest und dienen als Speichergedächtnis für erinnernswerte Begebenheiten. Dass diese Geschehnisse aus dem Bereich der Kultur und der Wissenschaft kommen und Tratsch und tiefe Einsicht miteinander verbinden, mag man beklagen. Aber es macht das Buch zu einer bürgerlichen Chronik und zu einer deutschen oder, genauer genommen, deutschsprachigen, bürgerlichen Chronik der Moderne par excellence.
An der so festgehaltenen Moderne fällt zunächst auf, dass sie durch einen jahrhundertlangen Sortierprozess gefiltert ist. Man stößt auf Bekannte und Bekanntes. Die Moderne als fehlgeschlagenes Projekt gibt es nicht; die Moderne als neu entdeckte und zu entdeckende artistische Versuche auch nicht. Es ist eine sehr kanonische Moderne, der wir wiederbegegnen, und damit eine Moderne ohne Wagnis - ein Widerspruch in sich selbst. Aber lassen wir das für einen Moment beiseite. Da die Begebnisse des Jahres 1913 überwiegend deutsch bzw. deutsch-österreichisch sind, macht die Illies'sche Chronik überdeutlich, dass 1913 der Geist im deutschsprachigen Raum Zukunft hatte. Die Chronik verzeichnet, was aus dem Jahr 1913 in der Gegenwart des Jahres 2013 kanonischen Rang gewonnen hat. Sie will sagen, dass wir am Ende des Jahrhunderts aus dem Reichtum des Jahres 1913 schöpfen können. Dahinter geht dann die Ironie der Geschichte verloren, dass wir das Jahrhundert hinter uns gelassen haben, für das diese Moderne eine Zukunft war. Damit geht auch die ungeheure Herausforderung dieser Moderne an die Sinneswahrnehmung der zeitgenössischen Gesellschaft unter. Merkwürdig, dass gerade in der Musik, dieser deutschesten aller Künste, der Widerspruch am größten geblieben ist. Aber all das ist wichtiger für die Stimmung des Jahres 2013 als für das Jahrhundertjahr 1913.
Illies hebt ganz zu Recht auf die Zukunftsträchtigkeit der damaligen deutschen und österreichischen Gegenwart ab. Ihn fasziniert der Umstand, dass so vieles, was 1913 literarisch und künstlerisch angedacht worden ist, ein Jahrhundert gebraucht hat, um bekannt und als ästhetisches Gemeingut akzeptiert zu werden. Ernst Ludwig Kirchners Szenen des Potsdamer Platzes waren neu und unerhört in ihrer Zeit; für das Publikum waren sie ein Skandal. Erst ein Jahrhundert später, nachdem der Potsdamer Platz zerstört, geteilt und wieder aufgebaut worden ist, wurden sie zum ikonischen Gemeingut - eine nunmehr heimische Erinnerung im Jahr 2013 an die Gegenwart ein Jahrhundert zuvor, die damals als gemalte (und für viele auch als real-physische) Gegenwart unheimlich erschien. Der deutsche Geist hatte nicht nur eine lange Zukunft, er brauchte sie auch, um diese Gegenwart des Jahres 1913 ein Jahrhundert später endlich aufblühen zu lassen. Illies bietet das Panorama einer Gegenwart, die Zukunft hatte; und er plädiert, wenn auch verhalten, für all jene, die glaubten, dass ihre Zukunft kommen würde und müsse. Er hat zwar ganze Zukunftssegmente ausgelassen und ist selbst ein empfindsam-temperierter Avantgardist. Aber es ist wahr, so viel Zukunft wie im Jahr 1913 hat es wohl selten zuvor und selten danach gegeben.
Das hat schon Stefan Zweig gesehen, als er in seinen Erinnerungen Die Welt von Gestern schrieb: "Nie habe ich unsere alte Erde mehr geliebt als in diesen letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, nie mehr auf Europas Einigung gehofft, nie mehr an seine Zukunft geglaubt als in dieser Zeit, da wir meinten, eine neue Morgenröthe zu erblicken." Stefan Zweig war eher Traditionalist als Modernist und jedenfalls kein Modernisierer. Er schrieb diese Zeilen im Rückblick auf eine Zeit, die verloren gegangen war. Der Weltkrieg hatte sie zerstört. Aber es ist wert festzuhalten, dass er nicht über die Vergangenheit der Vorkriegsgegenwart, sondern über die Zukunft des Jahres 1913 schrieb. Mehr noch, die Zukunft, die er im Jahre 1913 aufdämmern sah, die Einigung Europas, war nicht abgeklärte Gegenwart, sondern ein 1913 noch kaum zu erahnender Horizont. Es war ein Europa als sozialer und kultureller und nicht zuletzt als ökonomischer Raum. Mag sein, dass ein bisschen Nostalgie, also eine Erinnerung an eine Vergangenheit, die es so nie gab, mitschwang. Doch die Erwartung einer besseren Zeit ist wichtiger. Es ist bemerkenswert, dass es genau die Zukunft war, von der ein Jahrhundert später James Sheehan (und das Nobelpreiskomitee) glaubte, dass sie nach einer langen Zeit der Kriege den Frieden in Europa gesichert habe.

Inhalt

Inhalt
Vorwort 7
Michael Geyer
Von der Lust am Leben zur Arbeit am Tod: Zum Ort des Ersten Weltkriegs in der europäischen Geschichte 11
Michael Geyer
Die Tektonik der Grenzen - Geopolitik 1900 bis 1930 39
Karl Schlögel
Kontinentales Kernland oder maritime Küstenzonen: Zur Geopolitik des Ersten Weltkriegs 67
Hew Strachan
Der verdammte Karst - Mikroräume des Ersten Weltkriegs an der Isonzo-Front 93
Lutz Musner
1914 bis 1918: Eine Entartung des Krieges? 117
Jay Winter
Migration und Vertreibung: Von der Massenmigration zur Zwangsabschiebung 135
Richard Bessel
Verhaltensweisen des Krieges in der Russischen Revolution: Zur moralischen Ökonomie der Gewalt 149
Laura Engelstein
Lebenskonzepte, politische Nationenbildung, Identitäten und Loyalitäten in Österreich-Ungarn und Bosnien-Herzegowina 177
Tamara Scheer
Religiöse Lebenswelten in Krieg und Frieden 199
Patrick J. Houlihan
La grande désillusion - Schmerzdiskurse in Frankreich und Deutschland nach 1914 219
Elisa Primavera-Lévy
Die Nerven und das Phantom der"Stahlgestalt": Ernst Jüngers Kriegserfahrungen 239
Helmut Lethen
Autorinnen und Autoren 255

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