Beschreibung
InhaltsangabeInhalt Einleitung: Krisen als Wahrnehmungsphänomene.9 Thomas Mergel Theoretische Zugange zur Krise Einführung.25 Andreas Weis Bausteine eines soziologischen Krisenverständnisses: Rückblick und Neubetrachtung.29 Raimund Hasse Der Krisenbegriff der modernen Ökonomie.47 Alexander Nutzenadel Jenseits des Dualismus von Wandel und Persistenz? Krisenbegriffe der Sozial- und Kulturanthropologie.59 Stefan Beck und Michi Knecht Krisengesellschaften? Einführung.79 Tsypylma Darieva 'Only Bad News from Radio Africa': Das nachkoloniale Afrika als Kontinent in der Dauerkrise.83 Andreas Eckert Krise, Katastrophe und soziale Ordnung: Der Bürgerkrieg in Afghanistan.99 Conrad Schetter Die Krise als Topos im modernen China.117 Dominic Sachsenmaier Europa in der Krise: Zivilisationskrise - Integrationskrise - Krisenmanagement.131 Hartmut Kaelble Gesellschaften ohne Krisen? Einführung.147 Daniel Hedinger Wenn man das Ende schon kennt: Das Mittelalter - krisenfeste Geschichte?.151 Jan Rüdiger Gesellschaften ohne Krise? Der Staatssozialismus.165 Christoph Boyer Kritik als Krise oder warum die Sowjetunion trotzdem unterging.177 Jörg Baberowski Krise der 'natürlichen' Ordnungen: Körper und Geschlecht Einführung.199 Annelie Ramsbrock 'A man is not a man without work': Von Wirtschaftskrisen und arbeitslosen Familienvätern in den 1930er Jahren.203 Jürgen Martschukat Ende der Geburt? Die Technisierung der Fortpflanzung zwischen Krise und Naturalisierung.217 Barbara Orland Die Sprache der Krise - Die Krise der Sprache Einführung.237 Lena Gautam Krise und Sprache: Theoretische Anmerkungen.241 Heidrun Kämper Kritik und Krise: Politische Sprachkritik und Krisendiskurse in den 1970er Jahren.257 Martin H. Geyer Wortwelten und Sprachspiegelungen: Ein Vergleich der öffentlichen Diskurse zur Asienkrise 199798 und zur heutigen Weltwirtschaftskrise.275 Vincent Houben Epistemische Krisen Einführung.293 Christiane Reinecke Die 1968er Bewegung und das Paradigma der Selbstorganisation.297 Wolfgang Krohn L' état de crise: Normenbegründung in der Moderne - eine Skizze.315 Thomas Gutmann Ausblick Kassandras Melancholie und die Konstruktion von Gemeinschaftlichkeit.331 Bernhard Giesen Autorinnen und Autoren.349
Autorenportrait
Thomas Mergel ist Professor für Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Leseprobe
Einleitung: Krisen als Wahrnehmungsphanomene Thomas Mergel Und plötzlich ist sie ganz weit entfernt, die Krise. Oder doch nicht? Dax und Dow Jones steigen - und mit einem Mal bricht die Industrieproduktion der USA im letzten Quartal ein. Die Erleichterung ist groß, dass offensichtlich die Arbeitslosigkeit im Rahmen bleibt - da steht Griechenland vor der Pleite. Oder Irland. Oder Spanien. Das Rettungspaket könnte uns überfordern, wenn es ernst wird; ist der Euro in Gefahr? Die USA schaffen es nach einem regelrechten Show-Down, die Zahlungsunfähigkeit abzuwenden, aber es ist überdeutlich, dass auch sie über ihre Verhältnisse leben, und dass das Vertrauen der Weltwirtschaft in die größte Volkswirtschaft der Welt erschüttert ist. Deutschland dagegen hat traumhafte Wachstumsraten und eine solide Finanzpolitik, und die Experten erwarten eine Fortsetzung des Booms fur die nächsten Jahre - aber andere Experten warnen: Die Schuldenländer könnten auch das deutsche Finanzsystem mit in den Abgrund ziehen. Die Arbeitslosigkeit sinkt auf lange nicht gekannte Niedrigstände - aber Hunderttausende können von ihrer Arbeit nicht leben: Die neue Armut könnte auf Dauer gestellt werden. Aber da ist plötzlich von einer ganz anderen Krise die Rede: Der Fachkräftemangel könnte, so heißt es, die Konjunktur abwürgen. Und überhaupt: was für die Zukunft offenbar ansteht, ist nicht mehr Arbeitslosigkeit, sondern Arbeitskräftemangel. Jeder morgendliche Blick in die Zeitung schlägt eine neue Seite im Krisenbuch auf. Die Krise war ganz plötzlich da, so plötzlich, dass man sich fragte, wer eigentlich die ganzen Vorwarnsysteme ausgeschaltet habe. Und sie schien ebenso plötzlich wieder zu gehen. Vielleicht aber auch nicht, wer weiß das schon? Prognosen über Dauer und Ausmaß wagt keiner. Die Krise beschert uns ein Wechselbad, das vor allem auf eines hinweist: dass sie sich in eine offene Zukunft hinein ereignet, eine Zukunft, die voller Unsicherheit ist. Erst im Nachhinein wird sich die Kontingenz dieser Erfahrung als innerer Zusammenhang sehen lassen. Im Moment der Krise ist alles Handeln von der Unsicherheit der Frage nach Richtig oder Falsch. Früher haben die Deutschen in Zeiten der Krise gespart, und damit die Chance, mithilfe des Konsums der Krise Herr zu werden, vergeben. Heute konsumieren sie wacker gegen die Krise an. Aber vielleicht wird sich in Kürze herausstellen, dass das auch wieder falsch war. Allen Steuerungsphantasien, aller zahlengestutzten Prognostik zum Trotz: Die Krise erweist die Kontingenz gesellschaftlicher Prozesse. Sie macht die Fragilitat sozialer Konstruktionen offenbar. In solchen Momenten stehen Gesellschaften in ihren Selbstbildern und ihren Institutionen plötzlich vor neuen Fragen, und sie brauchen schnelle Antworten. Freilich, man kann aus Krisen lernen, und eine historische Untersuchung dieses Lernens würde sicher erweisen, dass dieser Mechanismus bis zu einem bestimmten Grad auch funktioniert. Dennoch: die Sehnsucht, durch Techniken, die aus früheren Krisen gelernt haben, 'am Ende aller Krisen' zu stehen, wird immer wieder enttäuscht; jede Krise ist auf ihre Weise neu. Diese Beobachtungen haben uns dazu bewegt, für die folgenden Beiträge die Frage in den Mittelpunkt zu stellen, was mit Gesellschaften - und das meint immer: was mit der Selbst- und der Fremdbeobachtung von Gesellschaften - in solchen Zeiten des schnellen Wandels geschieht. Wie im Umgang mit solchen Umbrüchen die Gesellschaften, ihre Prozeduren und Kommunikationsroutinen, ihre Bilder von sich selbst sich verändern. Wie aber vielleicht auch umgekehrt die Krise selber eine Funktion ihrer jeweiligen Gesellschaft ist, denn es scheint, als ob moderne, westliche Gesellschaften spezifische Formen von Krise ausgebildet haben, die sich von vormodernen oder von nichtwestlichen Krisen unterscheiden. Es fällt auf, dass der Begriff immer mit einem Ausnahmezustand konnotiert ist. Andererseits überrascht die Krise als Ereignis, so unvermutet sie auch hereinbricht, uns nicht wirklich, weil man sich daran gewöhnt, dass es periodisch dazu kommt. Der Krise haftet mithin eine gewisse Normalität an; Krise ist offenbar mehr oder weniger immer. Allerdings scheint es Konjunkturen zu geben, Zeiten, für die das K-Wort sich mehr anbietet als für andere. So sind in der historischen Forschung bestimmte Übergänge als Krisen bezeichnet worden, die in engem Zusammenhang mit dem ModerneKonzept stehen, etwa die Heraufkunft des industriellen Kapitalismus und die Übergänge aus der frühmodernen Gesellschaft des Verlagskapitalismus und der Handwerkskrise. Oder die Übergänge von einem industriegesellschaftlichen Regime zum anderen, etwa vom freien zum organisierten Kapitalismus im Umfeld der großen Depression seit den 1870er Jahren. Oder die Weltwirtschaftskrise und dem Übergang zum fordistischen Regime. Die Krise der Weimarer Republik war ebenso geläufig wie die Krise des Ancien Regime im Vorfeld der Französischen Revolution, die Krise des Spätmittelalters oder die Frage nach den Krisenherden des Deutschen Kaiserreichs. Krise war hier ein Begriff, der den - erfahrungsgeschichtlich rapiden - Umbruch von einem mehr oder minder stabilen Regime zum anderen beschrieb. Ziemlich deutlich hatte dieser Krisenbegriff des schnellen Übergangs einen politischen, ökonomischen und sozialgeschichtlichen Charakter. Wenn man allerdings genau genug hinsah, dann erwies sich ein langer Vorlauf ebenso wie eine lange Nachgeschichte, Überlappungen von politischer und ökonomischer Krise zeigten sich, schließlich auch, mit der Konjunktur von Alltags-, Erfahrungs- und Kulturgeschichte, die Krisen des Subjekts, des bürgerlichen Individuums oder der Geschlechterkonstruktionen. Kurz: wenn man genauer hinblickte, war Krise auch im 19. Jahrhundert immer. War das so anders als heute?
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