Beschreibung
Ist Geschlecht in der Wissenschaft heute ein Unterschied, der keinen Unterschied mehr macht? Die Autorinnen und Autoren werfen einen Blick auf die letzten hundert Jahre, in denen Frauen in der Wissenschaft tätig waren, und diskutieren den Zusammenhang von Wissenschaft, Macht und Geschlecht aus historischer, wissenschaftskritischer und geschlechtertheoretischer Perspektive.
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Leseprobe
Ein Schwerpunkt der vorliegenden Publikation ist die Geschichte von Frauen an der Berliner Universität Unter den Linden. Der Band knüpft damit an die in den vergangenen 15 Jahren erschienenen Studien an, die die Geschichte des Frauenstudiums einzelner Hochschulen im Rahmen von Ausstellungen und Sammelbänden aufarbeiten. Preußen war vor Mecklenburg (1909) der letzte Staat im Deutschen Reich, der 1908 die reguläre Immatrikulation von Studentinnen erlaubte. Auch die (Königliche) Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (FWU), die heutige Humboldt-Universität zu Berlin, ließ Frauen als voll immatrikulierte Studentinnen zum Wintersemester 1908, das heißt 100 Jahre nach ihrer Gründung, zu. Diese Geschichte und die der Akademikerinnen an dieser Universität ist - zumindest bis 1945 - inzwischen gut erforscht. Die Aufsätze von Falko Schnicke über den Historiker Heinrich von Treitschke, von Ulrike Auga über die Theologie und von Christina Altenstraßer über das Fach Nationalökonomie untersuchen bislang eher vernachlässigte, disziplinenspezifische Aspekte der Berliner Universitätsgeschichte. Alexandra Tischels Beitrag verbindet biographische Forschung über eine Berliner Wissenschaftlerin mit einem wissenschaftsgeschichtlichen Ansatz. Die schwierigen Bedingungen wissenschaftlicher Arbeit der ersten Studentinnengeneration diskutiert sie anhand des Lebens- und Berufsweges der Germanistin Helene Herrmann, die als Jüdin in Auschwitz ermordet wurde. Frauen konnten im Deutschen Reich zwar nach 1900 studieren, blieben aber aus der universitären Gemeinschaft zumeist ausgeschlossen und konnten daher nur Wissenschaft jenseits des Berufs betreiben. Tischel erklärt, inwiefern Herrmanns inhaltliche und methodische Neuorientierung von einer historisch-philologischen Germanistik zu geistesgeschichtlichen Ansätzen auch als Strategie zu verorten ist, an der wissenschaftlichen Gemeinschaft zu partizipieren. Silke Helling skizziert hingegen in Schlaglichter auf eine frühe Journalistin und politische Lobbyistin exemplarisch das Studium einer später überzeugten Nationalsozialistin. Else Frobenius war in der Phase des Übergangs zur Immatrikulationsberechtigung für Frauen als Gasthörerin in Berlin eingeschrieben und nach ihrem Studium außerhalb der Wissenschaft tätig. Auf Basis ihrer autobiographischen Schriften untersucht Helling die Studienzeit der Publizistin, ihre Lebens- und Studienbedingungen, wie auch ihre Aussagen zu jüdischen Förderern - darunter Max Herrmann, dem Ehemann von Helene Herrmann - und geschlechtlich segregiertem Bildungszugang. Viele Wissenschaftlerinnen arbeiteten an außeruniversitären Einrichtungen, da die universitäre Laufbahn einer Frau bis weit in das 20. Jahrhundert eine seltene Ausnahme blieb. Diese speziellen Bedingungen weiblicher akademischer Erwerbsarbeit sind für die Preußische Akademie der Wissenschaften (PAW) und teilweise auch für die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) erforscht und dargestellt worden. Eine detaillierte Analyse unternimmt hier Petra Hoffmann in Der Übergang vom universitären Ausbildungs- ins Wissenschaftssystem. Nach 1900 beschäftigte die PAW auch Nachwuchswissenschaftlerinnen in ihren Unternehmungen. Anhand der Berufswege von 90 Mitarbeiterinnen erläutert Hoffmann differenziert die Organisationsstrukturen der Akademiearbeit, die Bedingungen in den verschiedenen Unternehmungen, die familiären Voraussetzungen für die Karriereverläufe von Wissenschaftlerinnen und skizziert so eine der frühen Integrationsmöglichkeiten von Frauen in die Wissenschaft. Nach der weiblichen Teilhabe an der Wissensproduktion in der Zeit des Nationalsozialismus fragt Christine von Oertzen in ihrem Aufsatz Ausschluss und Aufbruch, transnational. Die 1919 gegründete International Federation of University Women (IFUW) stellte ein internationales akademisches Netzwerk dar, das europäische und US-amerikanische Frauen in den 1920er Jahren aufbauten und ab 1933 zur Flucht- und Flüchtlingshilfe nutzten. Von Oertzen hat dazu umfangreiche Archivmaterialien erstmals ausgewertet und kann so genau beschreiben, wie die IFUW verfolgten Akademikerinnen zwischen 1933 und 1945 zur Flucht verhalf und sie bei der Fortführung ihrer wissenschaftlichen Arbeit unterstützte. Die Situation von Studentinnen und Wissenschaftlerinnen in der Nachkriegszeit ist sowohl für die BRD wie auch die DDR bisher wenig erforscht. Massimo Perinellis Analyse des Filmes Studentin Helene Willfüer widmet sich der filmischen Repräsentation der wissenschaftlich tätigen Frau im Westdeutschland der Nachkriegszeit und beschreibt die 1950er Jahre als eine Zeit voller innerer Widersprüche. Die scheinbare Biederkeit der beginnenden Wirtschaftswunderzeit wird bei genauerer Betrachtung als funktionale Distanzierung zum Nationalsozialismus verstanden, unter deren Oberfläche erstaunlich deviante Praktiken der Sexualität, der Lebensarrangements und vergeschlechtlichter - wissenschaftlicher - Arbeit entstanden. Der Film ist dabei eine Quelle, die die verschiedenen Impulse der nachklingenden Vergangenheit, umkämpften Gegenwart und anvisierten Zukunft auffängt und diskursiv miteinander in Beziehung setzt.