Beschreibung
Die Vielfalt von Rainer Maria Rilkes (1875 bis 1926) Lebensstationen spiegelt sich im Werk des "letzten Dichters" wider. In dieser kompakten Darstellung folgt Rüdiger Görner Rilkes Spuren, verwehrt sich aber den gängigen Einordnungen und Periodisierungen. Es geht ihm vielmehr um den Prozess des Schaffens und um die Geschlossenheit des Werkes. Görner zeigt Rilke in seiner Zeit und analysiert die wichtigsten Einflüsse. Auf behutsame Weise werden Leben und Werk miteinander verwoben, und Görner veranschaulicht die Wirkung der Musik, der bildenden Kunst und der Politik.
Autorenportrait
Rüdiger Görner, geboren 1957 in Rottweil, ist Professor für Neuere Deutsche und vergleichende Literatur an der Queen Mary University of London. Gründer des Ingeborg Bachmann Centre for Austrian Literature und Gründungsdirektor des Centre for Anglo-German Cultural Relations. Träger des Deutschen Sprachpreises, des Reimar Lüstpreises der Alexander von Humboldt-Stiftung und des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Bei Zsolnay erschienen Rainer Maria Rilke. Im Herzwerk der Sprache (2004), Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme (2014) und Oskar Kokoschka. Jahrhundertkünstler (2018).
Leseprobe
Dichter in bedürftiger Zeit: Warum Rilke?Doch versucht euch an dem ganzen Rilke. Marina Zwetajewa am 12. Mai 1926Wer sich mit Rilke auseinandersetzt, fühlt sich entweder genötigt, dessen schiere Gegenwart zu betonen, ihn als "Dichter der Zukunft" zu feieren, oder in ihm - bei aller postulierten Zeitgemäßheit - den "letzten Dichter" zu sehen. Rilke gilt als Kultfigur, als Sprachmagier; unter manchen Literatur-Enthusiasmierten Kaliforniens sogar als Schutzpatron der New-Age-Bewegung und poetischer Engel in nachchristlicher Zeit. Manche glauben noch immer, seine Dichtungen zelebrieren zu müssen - sehr zu ihrem Schaden: Rilke nur bei Kerzenschein zu lesen ist seiner Dichtung ebensowenig zuträglich wie es anno 1987 die Aufführung von dessen Fin de Siècle-Einakter Die weiße Fürstin im Pariser Théâtre de l'Escalier d'Or gewesen war, als man dieses Stück durch eine bewußt dekadent einschläfernde Darstellungsweise wiederbeleben wollte. Wie wenig Rilke-Leser wollen das Radikale an seiner Kunst wahrhaben, das Unbedingte, mit dem sich dieser Dichter zur Offenbarung der Sprache bekannte. Rilke zum "unscheinbaren Schatten" eines von Jan van Eyck gemalten Apfels wollte er werden. Oder in Kastanienwäldern gehen im Vertrauen darauf, daß sich eine Richtung ergebe. Eine späte Photographie zeigt ihn mit weißen Gamaschen auf einem geharkten Parkweg von Muzot im Halbschatten, im Gehen einen Brief öffnend, dabei aber in die Kamera blickend und wehmütigmelancholisch lächelnd. Was trieb ihn um auf solchen Wegen? Ein unsicheres Verhältnis zur Zeit? Niemand weiß, wie spät es wirklich ist in seiner Zeit. Niemand, außer vielleicht dem Dichter. Zeit galt Rilke als sein "tiefstes Weh". Er sah sie wie einen welken Rand eines Buchenblatts. Zeit verstand er als Auftrag, durch sie, in ihrem Raum die Dinge zu ordnen, ein Verhältnis zu ihnen aufzubauen. Was es mit diesem Ordnen auf sich hatte, beschrieb noch 1932 Virginia Woolf in ihrem Letter to a young poet. Der Dichter, so Woolf, solle Beziehungen zwischen Dingen herstellen, die auf den ersten Blick unvereinbar aussehen und die aber doch über eine insgeheime Affinität verfügen. Jede Erfahrung solle der Dichter ganz in sich aufnehmen, und zwar furchtlos (". to absorb every experience that comes your way fearlessly"). Schon Hölderlin hatte in seiner Ode "Dichterberuf" diese Furchtlosigkeit hervorgehoben. Furchtlos und einsam vor Gott habe der Dichter zu sein, furchtlos aber auch darin, seine eigene Angst einzubekennen, seine Seelenot, seine Verzweiflung. Gemeint war bereits in Hölderlins Ode der Mut zum Reflektieren der Angst vor dem Bodenlosen unserer Existenz, aber auch vor dem Ungeheuren seiner Möglichkeiten. Warum Rilke? Klingt dieser Name - trotz aller Beteuerungen hinsichtlich seiner Gegenwart und Zukunft - nicht eher wie ein Gerücht aus einer anderen Welt? Weht uns hier nicht ein Name aus abgelebter Zeit an, ein "Duft von welken Rosen", wie es in einem seiner frühen Gedichte ("Auf dem Wolschan") heißt? Ist er nur noch ein Geist aus einem "toten Traum"? Rilke - man denkt an blaßblaues Briefpapier, an Wappen ausgestorbener Familien, an hängende Gärten und Felsen bei Duino, an die langen Schatten von Pinien und an alte Fontänen? Warum sich noch einlassen auf seine "Mädchen" und "Engel", sein "Aufsingen", seine "Spiegel", warum mit dem oft unerträglich Manirierten seines frühen Dichtens weiter umgehen? Weil dadurch erkennbar wird, wie sich seine sprachlich einzigartig gebliebene Dichtung und die mit ihr verbundenen existentiellen Fragen entwickelt haben, etwa die Frage nach dem, was wirklich ist - in einer Beziehung, einer Erfahrung, einer Sichtweise. Es ging Ril Leseprobe