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Wo wir einst gingen

Ein Roman über eine Stadt und unseren Willen, höher zu wachsen als Gras

Erschienen am 22.09.2008
Auch erhältlich als:
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783442751976
Sprache: Deutsch
Umfang: 651 S.
Format (T/L/B): 4.5 x 22 x 14.3 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Ein reicher, vielschichtiger, lebenspraller Roman aus dem Helsinki des beginnenden 20. Jahrhunderts Eine Stadt, in der es gärt, ist dieses Helsinki in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Auf das Trauma des finnischen Bürgerkriegs 1918, der einen Riss durch die Gesellschaft zieht, folgen die enthemmten zwanziger Jahre wie ein einziger langer Rausch. Nach den Kriegsgräueln prägen nun Jazz, Fußball, Schwindsucht, Hunger, Fotografie, Champagnerorgien, Prohibition, Tennis, Bubiköpfe und schimmelige Armeekasernen das Bild. Die unterschiedlichsten Menschen treffen sich in dieser Stadt, vereint in ihrer Sehnsucht nach Glück und Bedeutung in ihrem Leben: zum Beispiel der radikale Allu Kajander, der seine Sportlerkarriere opfert, um zur See zu fahren; der hasserfüllte Cedi Lilljehelm, der mit den Visionen der faschistischen Schwarzhemden sympathisiert; seine frivole Schwester Lucie mit ihrem unbändigen Freiheitswillen, die einen Hauch des dekadenten Paris in den Norden trägt und die Männer in Scharen anzieht; und nicht zuletzt der idealistische, hoch sensible Fotograf Eccu, der am Ende an der harschen Wirklichkeit scheitert. Doch bei allem Kampf, bei allem Scheitern und bei aller Bitterkeit gibt es auch hier, in diesen unruhigen Zeiten, die großen menschlichen Gesten, getragen von Liebe und Verständnis und Mitmenschlichkeit, die letztlich triumphieren .

Leseprobe

Erstes Buch Im ersten Kriegswinter konnte Jali Widing noch den Schnee fallen hören (19051917) Der stille Allu Der Zufall wollte es, dass der erste Tag von Vivan Fallenius als Hausmädchen bei den Herrschaften Gylfe in der Achtzimmerwohnung an der Boulevardsgatan auf den ersten Jahrestag der Ermordung des russischen Generalgouverneurs Bobrikoff durch den einsamen und halbtauben Beamten Eugen Schauman fiel. Der stellvertretende Amtsrichter und seine Frau, die Schauman flüchtig gekannt hatten, feierten dies mit einem stummen Champagnertoast zur Consommé. Vivan stand an der Tür zum Flur, mit Rüschen in den Haaren, sie trug einen schwarzen Rock und eine schwarze Bluse mit weißem Spitzenkragen und hatte sich darüber hinaus eine weiße Schürze umgebunden, sie wartete auf die nächste Anweisung und versuchte sich möglichst unsichtbar zu machen. Das mit Schauman und Bobrikoff interessierte sie nicht weiter, stattdessen dachte sie an den Familienbaum daheim in Degerby, an ihre Hofbirke, die während eines überraschenden Maisturms vor gut einem Monat in der Mitte umgeknickt war, und daran, wie seltsam es doch war, dass sie bereits im Januar geträumt hatte, der Baum werde sterben. Träume dieser Art hatte sie in regelmäßigen Abständen, und sie machten ihr Angst, aber inzwischen war schon zartgrün gefärbter Sommer, und sie fragte sich, warum Frau Beata Gylfe nicht die schweren Samtvorhänge aufziehen ließ. Vivan hatte es am Vormittag eigenmächtig getan; wenn die Vorhänge fort waren, sah man, wie schön das Licht auf die Boulevardsgatan fiel, und man konnte sich hinauslehnen und die jungen Linden anschauen und dem Klackern von Pferdehufen und Klappern von Wagen und Karren auf dem Kopfsteinpflaster lauschen. Vivan fand, dass die Gylfeschen Paradezimmer düster und brütend wurden, sobald die Vorhänge zugezogen waren. Sie wusste nicht, dass es dem Wunsch der reichen Stadtbewohner entsprach, wenn ihre Wohnungen so aussahen - dunkel getäfelte Möbel, Ebenholz und Mahagoni, schwarze, dekorativ bemalte Urnen und gipsweiße, auf kleinen Ziertischen ausgestellte Statuetten, üppige Topfpalmen in den Ecken, Seegemälde und glupschäugige Verwandte an den Wänden und dann die Stühle, diese quälende Vielzahl von Zierstühlen und Sesseln, die allerorten herumstanden und zur Folge hatten, dass man sich die Beine blau und wund schlug, wenn man zwischen den Möbelstücken kreuzte, um zu servieren oder abzudecken oder eine soeben abgegebene Visitenkarte zu überreichen oder was einem sonst gerade aufgetragen worden war. »Es ist gut«, sagte der stellvertretende Amtsrichter Gylfe mit Nachdruck und riss sie aus ihren Gedanken, »die gnädige Frau ruft Fräulein Vivan dann, wenn es Zeit für den Braten ist, wir haben ja die Klingel, Vivan kann zusammen mit Frau Holmström in der Küche warten.« Vivan knickste und öffnete die Tür zum Flur. Auf dem Weg zur Küche sah sie, dass der ältere der beiden Söhne des Hauses ihren Blick einzufangen suchte, aber sie gab vor, ihn nicht zu bemerken. Es dauerte nicht lange, bis die beiden halbwüchsigen Jungen der Familie anfingen, sie nicht Vivan, sondern Gullvivan, Schlüsselblume, zu nennen. Anfangs sah sie darin nichts Unziemliches, denn schon daheim im Dorf hatten die jungen Männer ihr verschiedene Kosenamen gegeben und freundschaftlich benutzt. Doch wenn Magnus und Carl-Gustaf Gylfe den neuen Namen verwandten, huschte etwas über ihre glatten Gesichter, das Vivan als Geringschätzung und Hohn deutete, und manchmal schob sich Magnus, der ältere, plötzlich aus dem luxuriösen Badezimmer der Herrschaften mit Toilettenlüftung und einer Badewanne, die auf bronzenen Löwenpranken stand, und trällerte daraufhin mit leiser Stimme: Vivan, Vivan, Herz aus Gold, Vivan, Vivan, wann bist du mir hold, und seine Hose beulte sich aus, wenn sie mit pochendem Herzen und einem vollbeladenen Tablett in den Händen im dunklen Flur an ihm vorbeieilte. Die beiden Söhne des Hauses glichen in ihren Augen verhätschelten Hauskatzen, und sie spürte die B Leseprobe

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