Beschreibung
Die Reichsstraße 1 gibt es nicht mehr. Mit dem lesenswerten Buch von Patricia Clough kann man sie aber trotzdem bereisen. Deutsche Geschichte einmal ganz anders erzählt. NDR Kulturjournal "In sympathischem Landstraßentempo verbindet Clough geschickt historische Rückblicke, örtliche Atmosphären und die Eigenrecherche von Einzelschicksalen, die hinter den Landschafts- und Häuserfassaden liegen. Eine Einladung zur Erkundung unseres Landes." Süddeutsche Zeitung "Patricia Cloughs Deutschlandbuch [ist] eine englische Streicheleinheit fürs deutsche Gemüt." taz
Autorenportrait
Patricia Clough, 1938 in England geboren, hat viele Jahre als Korrespondentin für große britische Tageszeitungen wie die Times und den Independent aus Deutschland berichtet. Bei DVA erschienen von ihr: Hannelore Kohl. Zwei Leben (2002), In langer Reihe über das Haff. Die Flucht der Trakehner aus Ostpreußen (2004) und zuletzt Aachen - Berlin - Königsberg. Eine Zeitreise entlang der alten Reichsstraße 1 (2007).
Leseprobe
Vor vielen Jahren, als ich einmal mit dem Auto bei Aachen von den Niederlanden über die Grenze nach Deutschland fuhr, sah ich am Straßenrand ein schlichtes weißes Schild. Darauf stand einfach: "KÖNIGSBERG 1000 km". Wie bitte? Als junge Besucherin aus Großbritannien hatte ich damals nur eine eher verschwommene Vorstellung von der Nachkriegsgeografie des Kontinents. Aber immerhin wusste ich, dass Königsberg jetzt nicht mehr Königsberg genannt wurde, dass ich bis dorthin mehrere ziemlich garstige Grenzen zu überwinden hätte und außerdem ohnehin nicht hineingelassen würde, weil die Stadt nun militärisches Sperrgebiet war. Warum also sollte ich oder überhaupt irgendjemand noch wissen wollen, wie weit es nach Königsberg war? Merkwürdiges Volk, diese Deutschen, dachte ich und fuhr weiter. Erst mehrere Jahre später wurde mir klar, dass dieses Straßenschild etwas damit zu tun haben musste, dass die Straße, auf der ich damals nach Deutschland gekommen war, einmal die Reichsstraße Nummer 1 gewesen war. Diese war eine Zeit lang die längste Straße des Landes, berühmt für ihre enorme Reichweite - 1392 Kilometer von der holländischen Grenze im Westen bis zur damaligen Grenze zur Sowjetunion im Osten. Noch berühmter aber waren die 1000 Kilometer, die angeblich Aachen von Königsberg trennten. Obwohl dies eine plausible Erklärung für jenes Schild war, kam mir die ganze Geschichte immer noch ziemlich seltsam vor. Denn sie ereignete sich in den frühen 1960er Jahren, und wer wollte damals schon an das Deutsche Reich geschweige denn an das Dritte Reich erinnert werden, an das Schicksal von Königsberg oder überhaupt etwas mit dieser Vergangenheit zu tun haben? Von meinen Besuchen als Austauschschülerin wusste ich bereits, dass die deutsche Geschichte scheinbar erst in den späten 1940er Jahren begonnen hatte. Alles musste neu und anders sein, die Tische nierenförmig statt quadratisch, Fotoalben und Schreibblöcke im Rautenzuschnitt und nicht rechteckig, da gab es futuristische Einrichtungsstoffe oder einfach diese unglaublich entspannte, demokratische Atmosphäre in den Klassenzimmern statt der strikten Disziplin, wie ich sie immer noch aus meiner Schule in England kannte. Von der Vergangenheit, insbesondere der jüngsten, sprach man kaum und wenn, dann nur sehr zögerlich, mit feierlichem Tonfall in der Stimme und begleitet von einem traurigen, gedankenvollen Kopfschütteln, wie wenn man von einem schrecklichen Unglück in der Familie erzählt. Es schien, als müsse man unter die jüngste Geschichte mit ihrem unermesslichen Grauen, all den Verbrechen, Leiden, Entbehrungen, Umwälzungen und Verlusten einen Strich ziehen, sie wegsperren in die Vergangenheit und so weit wie möglich vergessen. Zu dieser Zeit war aus der Reichsstraße 1 die Bundesstraße 1 geworden. Und die endete schon nach etwa 460 Kilometern an jenem verminten Stacheldrahtstreifen, der damals die Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland markierte. Dahinter - falls sie überhaupt befahrbar war, was mir ziemlich unwahrscheinlich vorkam - wurde sie zur Fernstraße 1 bis zur Oder, dann zu den polnischen Straßen Nummer 132, 22 und 504 bis Gronowo (dem ehemaligen Grünau) und schließlich zur russischen A 194 und A229, bis sie letztendlich nahe des früheren Eydtkuhnen, jetzt Tschernyschewskoje, an der innersowjetischen Grenze zwischen dem sogenannten Kaliningrader Gebiet und der Sowjetrepublik Litauen endete. Die Nachkriegsverträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion bestanden noch nicht, aber Kaliningrad "Königsberg" zu nennen und in irgendeiner Weise an ein einstmals größeres Deutschland zu erinnern, galt - um es vorsichtig zu formulieren - als "politisch nicht korrekt", und man lief Gefahr, als Revanchist, Unbelehrbarer oder Schlimmeres gebrandmarkt zu werden. Welche Kommunal- oder Straßenbaubehörde hegte da heimlich großdeutsche Gefühle? Diese Frage drängte sich geradezu auf. War nicht ein solches Straßenschild mit dieser ganz und gar überflüssigen Information politischer S Leseprobe
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