Beschreibung
In einer Nacht des Jahres 1923, ausgelöst durch eine seltsame Verkettung von Umständen, schreibt der Ministerialbeamte Varamo, der mit Literatur weder zuvor noch danach jemals das Geringste zu tun hat, das perfekte Gedicht. Mit kühner literarischer Eleganz und viel Witz erzählt César Aira von den Ereignissen und den Begegnungen dieser Nacht in einer abenteuerlich-vergnüglichen Gesellschafts- und Künstlersatire.
Autorenportrait
César Aira wurde 1949 in Pringles, Buenos Aires, geboren, wo er als Schriftsteller und Übersetzer lebt. Er hat zahlreiche Romane und Erzählungen geschrieben und ist einer der bekanntesten Schriftsteller Südamerikas. Sein Werk umfasst mehr als dreißig Romane, Novellen und Erzählungen.
Leseprobe
An einem Tag im Jahre 1923 verließ in der Stadt Colón (Panama) ein drittrangiger Schreiber das Ministerium, nachdem er zuvor die Kasse aufgesucht hatte, um sich, da es der letzte Arbeitstag des Monats war, sein Gehalt abzuholen. In der Zeit, die zwischen diesem Augenblick und dem Anbruch des folgenden Tages verging, also innerhalb von zehn bis zwölf Stunden, schrieb er ein langes Gedicht, in einem durch, ab der Entscheidung, es zu schreiben, bis zum Schlusspunkt, nach dem es keine Zusätze oder Änderungen mehr geben würde. Um diese Zeitspanne in sich abzuschließen, sei hier gesagt, dass er nie zuvor in seinem nun schon ein halbes Jahrhundert währenden Leben auch nur eine einzige Verszeile geschrieben hatte oder ihm ein Grund eingefallen war, warum er dies hätte tun sollen; auch danach schrieb er nie wieder etwas. Es war eine Blase in der Zeit und in seiner Biographie, ohne Vorläufer oder Nachfolger. Die Inspiration blieb innerhalb der Aktion und umgekehrt, wo die eine die andere nährte und beide sich gegenseitig verzehrten, ohne Reste übrig zu lassen. Trotzdem wäre es eine private und geheime Episode geblieben, wäre ihr Protagonist nicht Varamo gewesen und das daraus resultierende Gedicht nicht das berühmte Meisterwerk der modernen mittelamerikanischen Lyrik Der Gesang des jungfräulichen Kindes. Ausgangs und Höhepunkt der gewagtesten experimentellen Sprachavantgarde, wurde das rätselhafte Gedicht (das wenige Tage später als Buch herauskam, um den Mythos des Plötzlichen zu verfestigen, der es seither umweht), weil es jeden Kritiker oder Literaturgeschichtler, der es in einen Kontext einzuordnen versucht, vor schier unüberwindliche Schwierigkeiten stellt, wiederholt als unerklärliches Wunder bezeichnet. Doch hat auf dieser Welt alles seine Erklärung. Wenn wir sie in diesem Fall finden wollen, müssen wir uns daran erinnern, dass diese Episode, wenn sie ein Ende hat (den Gedichttext), auch einen Anfang haben muss, schon aus Gründen der Symmetrie, so wie die Wirkung auf die Ursache folgt oder umgekehrt. Besagte Episode, wir erwähnten es bereits, nahm ihren Anfang in dem Augenblick, in dem Varamo, nachdem er seinen Arbeitstag beendet hatte, die Kasse aufsuchte, um sein Gehalt abzuholen. Dieser an sich banale Vorgang wurde deshalb zum Anfang von etwas noch Form- und Namenlosem, weil man ihm diesmal zwei falsche Geldscheine ausbezahlte. (Der Betrag belief sich auf insgesamt zweihundert Pesos; man gab ihm zwei Hunderterscheine.) Diese Erzählung hat zum Ziel, die vollständige Abfolge der Ereignisse darzustellen, die von dem einen zu dem anderen führte, in ihrer natürlichen Entwicklung, ab dem Moment, in dem er die Geldscheine entgegennahm, bis zu dem Augenblick, in dem das Gedicht vollendet war. Anfangs- und Endpunkt hatten eines gemein, nämlich dass sie ihn aus seiner gewohnten Denkbahn rissen. Leseprobe