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Offene Fenster, offene Türen

Erschienen am 26.08.2021
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783311100645
Sprache: Deutsch
Umfang: 256 S.
Format (T/L/B): 2.5 x 19.1 x 12.3 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Niemanden würde Casper Arbenz Affäre mit Juliette Noirot interessieren. Wäre er nicht 55 und sie 19. Wäre er nicht Dozent an der Jazzschule, an der sie Gesang studiert. Hätten Casper und Juliette nicht während eines Konzerts in einem Probenraum Sex gehabt. Gäbe es davon nicht ein Video, das jetzt in den sozialen Medien kursiert. Die Schulleitung, die ganze Stadt ist entsetzt. Wellen der Empörung schlagen Casper und Juliette entgegen, Schuldzuweisungen, Hass und Hetze stellen ihr Leben auf den Kopf. Was darf noch privat sein, was gehört in den öffentlichen Diskurs? Und wird es den beiden gelingen, sich von den Meinungen anderer zu befreien und die Katastrophe als Chance für einen Neuanfang zu nutzen? Hansjörg Schertenleib urteilt nicht, erzählt nüchtern alternierend aus der Perspektive seiner beiden Figuren und legt das Gebaren einer manipulativen Gesellschaft offen, die sich aufgeklärter gibt, als sie in Tat und Wahrheit ist, und die keine Grautöne mehr kennt.

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Autorenportrait

HANSJÖRG SCHERTENLEIB, 1957 in Zürich geboren, ist gelernter Schriftsetzer und Typograph. Seine Novellen, Erzählbände und Romane wie die Bestseller Das Zimmer der Signora und Das Regenorchester wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, seine Theaterstücke auf der ganzen Welt gezeigt. Schertenleib, der auch aus dem Englischen übersetzt, u.a. Werke von Eoin McNamee und Sam Shepard, lebte zwanzig Jahre in Irland, vier Jahre auf Spruce Head Island in Maine und pendelt seit Sommer 2020 zwischen Autun im Burgund und Suhr im Kanton Aargau. Im Kampa Verlag sind erschienen: Die Fliegengöttin, Palast der Stille, Der Glückliche (siehe auch S. 85) und die Maine-Krimis Die Hummerzange und Im Schatten der Flügel.

Leseprobe

Zügig hebt sich die Dunkelheit, als hätte der Tag es eilig, sich endlich zu zeigen, endlich zu beginnen. Casper bleibt trotzdem liegen. Wofür soll er sich beeilen, wozu soll er überhaupt aufstehen? Der Satz von Nietzsche 'Es gibt keine Tatsachen, nur Interpretationen' geht ihm durch den Kopf. Das Tribunal der sozialen Medien tagt, rachsüchtig und ungerecht, wie er findet, weil es sich einseitig entweder auf Juliettes Seite oder auf seine schlägt, gierig nach Verurteilung, süchtig nach einem Opfer, einem Täter. Wer definiert 'einvernehmliche Handlung' oder 'Einwilligung'? Hat er Juliette um ihre Einwilligung gebeten? Hat sie die Erlaubnis erteilt, dass etwas geschieht? Und was heißt 'et- was', angesichts der Dynamik der Diskrepanz zwischen ihrer Position und ihrem Alter? In einer Gesellschaft, in der es zur Regel geworden ist, dass jeder sein Innerstes nach außen kehrt, gilt einer, der sich dem sozialen Zirkus verschließt, als eigenartig und suspekt und bereitet damit den perfekten Nährboden für Spekulationen. Wieso soll er sich der Diktatur der Meinungen und Verurteilungen aussetzen, wieso soll er den hassgesteuerten, vor Verachtung triefenden Dreck lesen? Im Wettstreit der Denunziation in den sozialen Netzwerken wird nicht nur er untergehen, sondern auch Juliette, davon ist er überzeugt. Ist ihr das bewusst? Muss sie ihn anzeigen, um sich selbst zu schützen? Bis vor drei Jahren hat er sich den sozialen Medien mehr oder weniger verweigert; Bands, in denen er mitspielt, hatten schon vorher Websites, Musiker, mit denen er zusammenspielt, bedienten Instagram, Facebook und Twitter. Vor drei Jahren hat er sich nach langem Hin und Her schließlich von Bettina überzeugen lassen, Facebook beizutreten und einen Instagram-Account zu eröffnen, um Einladungen zu Gigs, Erscheinungsdaten von CDs sowie Fotos zu posten. Schon bald hat sie aufgehört, ihm Vorwürfe zu machen, weil er sich kaum um die Konten kümmert und höchstens etwas postet, wenn sie ihn dazu auffordert. Er fühlt sich unwohl auf den Portalen, kann schlecht umgehen mit dem Neid und der Missgunst, die er spürt, wenn er Fotos betrachtet, die von Erfolgen berichten und ihm ein Leben vor Augen führen, das ihm offenbar verwehrt bleibt. Er beschließt, sich in der ehemaligen Werkstatt seines Großvaters in der Ostschweiz zu verkriechen, die dieser ihm vermacht hat, packt seine alte lederne Reisetasche, Kleider, Unterwäsche, Strümpfe, stellt einen Stapel CDs zusammen, die hoffentlich zu seiner Stimmung passen werden, viel Jazz, etwas Reggae, Electro, kaum Rock, nur Bob Dylan, Joni Mitchell, Neil Young. Er betritt Bettinas Zimmer, in dem sie gelesen, Aufsätze und Grammatikprüfungen korrigiert und stundenlang ungestört mit Daniel und Freundinnen telefoniert hat. Casper ist kein Leser, trotzdem will er einige Romane mitnehmen, nicht nur Musik. Nicht einmal die Bücher, die Bettina als ihre Klassiker bezeichnete, hat er gelesen; angefangen hat er sowohl Kafkas Das Schloss als auch Sylvia Plaths Die Glasglocke und Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez, zu Ende gelesen hat er allerdings keines, weil er sich jedes Mal langweilte und den Sinn nicht einsah, sich auf erfundene Welten einzulassen und für Schicksale fiktiver Figuren Empathie zu empfinden, mit ihnen zu leiden. Über seinen Vorwurf, Romanautoren drückten sich vor der Realität, suhlten sich in poetischen Formulierungen und berichteten nichts, was er nicht längst wisse, hat sie sich nicht einmal geärgert; das mitleidige Lächeln, das sie ihm zuwarf, hat ihn damals tief getroffen. In Bettinas Reich riecht es anders als im Rest des Hauses, nicht fremd, jedoch anders, heller und sommerlicher, als stünde ein Aufbruch bevor, ein Neubeginn. Er hat im Fernsehen erfahren, dass der Mensch unfähig ist, sein eigenes Zuhause zu riechen: Sobald er sich in den eigenen Räumen aufhält, genügen zwei Atemzüge, dann verschließen sich die Nasenrezeptoren, er entscheidet, dass ein Geruch keine Gefahr anzeigt und nimmt ihn nicht länger wahr; statt seine Aufmerksamkeit für erwiesenermaßen Ungefährliches zu vergeuden, konzentriert er sich auf potentielle Bedrohung und Gefahr. Trotzdem kann Casper die Frau riechen, die ihn geheiratet hat. Ihr Duft nach Zimt, Jasmin und gespitzten Bleistiften bringt ihn noch heute aus dem Konzept und zum Träumen. Hat er, trotz seiner Seitensprünge, nie aufgehört, sie zu lieben? Oder ist Liebe pure Illusion, Liebeskummer die größte Bewährungsprobe, die es gibt? Kann er ohne Bettina leben? Seine Abenteuer mit anderen Frauen boten nicht bloß ungestüme Intensität und entfachten das Feuer sexueller Leidenschaft, sie bargen ebenso etwas Zerstörerisches in sich, sorgten für Unruhe und Verwirrung und brachten sein unaufgeregtes, geord- netes Eheleben aus der Balance. Hat er demnach nur aus Bequemlichkeit nie daran gedacht, sich wegen einer anderen Frau von Bettina zu trennen? Als Daniel dreizehn wurde und Casper ihn aufklären wollte, legte sein Sohn ihm die Hand auf den Arm: 'Mams hat mir schon alles erklärt, gib dir keine Mühe!' Seither hegt Casper den begründeten Verdacht, dass Bettina Dinge über Daniel weiß, die ihm verborgen bleiben. Mit fünfzehn hielt Daniel einen Schulvortrag über Atombombenversuche; die Fotos, die er in der Klasse gezeigt hat, hängen gerahmt hinter Bettinas Arbeitstisch. Casper tritt so dicht an die sechs von der NASA veröffentlichten Bilder, dass er die Angaben, die Daniel in seiner Kinderschrift daruntergeschrieben hat, ohne Lesebrille entziffern kann: Hiroshima: 15 Kiloton­ nen, 6. August 1945; Eni­ wetok: 10,4 Megatonnen, 1. November 1952; Bikini Atoll: 15 Megatonnen, 1. März 1954; Reggane: 1,6 Ki­ lotonnen, 27. Dezember 1960; Semipalatinsk: 150 Kilo­ tonnen, 4. September 1961; Johnston Island: 11, 3 Kilo­ tonnen, 6. Oktober 1962. Die unmenschliche Schönheit der Bilder fasziniert ihn noch immer. Wie oft haben sie davorgestanden, Mutter, Vater und Sohn, schweigend, im gemeinsamen Schrecken vereint? Auf dem Bücherregal liegt, neben Muscheln, Vogelfedern, Steinen und Tannenzapfen, gesammelt auf Spaziergängen, Bettinas Haarspange aus Schildpatt, die er ihr vor Jahren in Christiania in Kopenhagen gekauft hat. Er nimmt sie in die Hand, dreht sie hin und her, schließlich steckt er eine ihrer Spitzen in den Mund und saugt daran. Die Spange schmeckt salzig, plötzlich hat er Tränen in den Augen.